Ein Notfallsanitäter handelt ohne Absprache eines Arztes – und verliert die Lizenz. Der Fall landet vor Gericht. Unsere Blogger sprachen mit dem Juristen, der für seinen Mandanten Rechtsgeschichte geschrieben hat.
Die berufsmäßige Ausübung der Heilkunde ist seit 1939 gesetzlich streng geregelt. Bei Verstößen versteht die Strafverfolgungsbehörde zum Schutz des höchsten menschlichen Guts keinerlei Spaß.
Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Körperverletzung könnten die Folge sein. Ohne Approbation oder einer behördlichen Zulassung als Heilpraktiker geht gar nichts – oder man hat eben eine Ausbildung zum Notfallsanitäter absolviert und das Staatsexamen bestanden. Dem ein oder anderen schmeckt die Tatsache allerdings gar nicht, dass Notfallsanitäter durch die neue Rechtslage als dritte Berufsgruppe eigenverantwortlich Heilkunde ausüben dürfen, wenn bestimmte Voraussetzungen vorliegen – die Medikamentengabe eingeschlossen.
Der Ärztliche Leiter Rettungsdienst (ÄLRD) des Bereichs Landshut hat Notfallsanitäter Andreas Drobeck die Delegationsurkunde wegen eines vermeintlichen Verstoßes mit sofortiger Anordnung weggenommen. Dies erfolgte, weil Drobeck und sein Kollege angeblich eine heilkundliche Maßnahme durchgeführt, aber keinen Notarzt nachgefordert haben. Eben jene Delegationsurkunde benötigt ein Notfallsanitäter, wenn er ärztlich delegierte Maßnahmen durchführen möchte, ohne dass ein Arzt den Patienten gesehen hat. Der Entzug war jedoch rechtswidrig. Drobeck hatte geklagt.
Am 24. März wurde die Einstellung des „Drobeck-Verfahrens“ gegen den Rettungszweckverband Landshut vom Verwaltungsgericht Regensburg verfügt.
Zusammen mit Jurist Prof. Dr. Ernst Fricke hat Drobeck dem System der bayerischen ÄLRD einen Dämpfer versetzt. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat bereits in seiner Eilentscheidung vom 21. April 2021 und im Rahmen seiner 12 Leitsätze herausgestellt, dass Notfallsanitäter ein „eigenverantwortlicher Teil der Rettungskette“ sind, und klare Worte zum Verhalten des ÄLRD gefunden: Hier ist die Rede von „Selbstherrlichkeit“ und „Standesdünkeln“. Nach dieser Entscheidung des VGH ist es demnach unerheblich, „ob eine medizinisch indizierte Maßnahme von einem Arzt oder einem ausgebildeten Notfallsanitäter lege artis ins Werk gesetzt wird“ – wichtig sei nur, dass diese Maßnahme überhaupt erfolgt.
Prof. Dr. Ernst Fricke. Credits: Dr. Christian Klenk
Aber was bedeutet dies nun konkret für Deutschlands Notfallsanitäter? Rechtsanwalt Prof. Fricke hat uns ein paar Fragen zur Bedeutung dieses Verfahrens und der juristischen Berufsgrundlage von Notfallsanitätern beantwortet.
RR: Professor, vielen Dank, dass Sie sich zu diesem Interview bereiterklärt haben! § 2a NotSanG ist besonders in Bayern nach wie vor ein Minenfeld. Das Verfahren gegen den Rettungszweckverband Landshut ist nun auch in der Hauptsache beendet – inklusive einer Rüge für den verantwortlichen ÄLRD Landshut durch den Verwaltungsgerichtshof. Sie haben für Ihren Mandanten Rechtsgeschichte geschrieben. Aber was bedeutet dies konkret für den Notfallsanitäter?
EF: Das bedeutet für den Notfallsanitäter, dass er im Rahmen seiner „erlernten und beherrschten Maßnahmen“, genau wie ein Arzt, eigenständig und individuell tätig werden kann und muss, sofern die Voraussetzungen des § 2a NotSanG aus seiner Sicht gegeben sind.
RR: Manche Stimmen behaupten, die Eilentscheidung sei ja „nur ein Beschlussverfahren beim VGH gewesen“, und dies hätte keinerlei rechtliche Relevanz hinsichtlich der Anwendung von § 2a NotSanG.
EF: Das ist nicht korrekt, der umfangreiche Beschluss des VGH hat seiner Entscheidung zum Eilantrag sogar aufgrund seiner Bedeutung 12 Leitsätze vorangestellt. So wichtig erschien dem höchsten bayerischen Verwaltungsgericht die Problematik. Der Beschluss hat die Hauptsache faktisch ebenfalls rechtlich entschieden. Es ist kaum denkbar, dass ein „unteres“ Gericht dem VGH rechtlich widersprochen hätte. Da wäre das „untere“ Gericht von der nächsten Instanz aus Gründen der Vereinheitlichung der Rechtsprechung mit einem „Federstrich“ aufgehoben worden.
RR: Lässt sich denn nun an irgendeiner Stelle des neuen Gesetzes ableiten, dass trotz Anbringen invasiver Maßnahmen unbedingt ein Notarzt an die Einsatzstelle ausrücken muss oder reicht es, wenn der Patient einfach in eine weitere ärztliche Behandlung gebracht wird?
EF: Nein. Gem. NotSanG § 4 Abs 1c genügt es, wenn der Patient einem Arzt zugeführt wird. Ebenso zur Vorbeugung einer weiteren ärztlichen Behandlung sind eigenständige heilkundliche Tätigkeiten erlaubt. Auch eine teleärztliche Übergabe ist möglich. Sofern man seine Maßnahmen ordnungsgemäß dokumentiert, kann der Patient auch am nächsten Tag zum Hausarzt gehen und ihm die Dokumentation vorlegen.
RR: Kann denn der ÄLRD vorschreiben, dass bei jeder invasiven Maßnahme ein Notarzt vorab anzufordern ist?
EF: Nein, der ÄLRD kann das nicht vorschreiben. Das Bundesgesetz regelt das u.a. in § 2a NotSanG. Der ÄLRD arbeitet im Auftrag einer Landesbehörde, welche der Exekutiven zuzurechnen ist. Alle Satzungen, Präambel, Empfehlungen einer Verwaltung sind an „Recht und Gesetz“ nach Art. 20 III GG gebunden.
RR: Wie weit geht das Weisungsrecht des ÄLRD speziell in Bayern konkret?
EF: Der Arzt, sofern er legitimiert am Einsatz teilnimmt, ist dem Notfallsanitäter gegenüber medizinisch weisungsbefugt. Wie der VGH-Beschluss vom 21. April 2021 schon ausführt, ist eine retrospektive Beurteilung des Patienten ohne „ex ante Betrachtung“ nicht möglich. Somit sind strikte Anweisungen eines ÄLRD im Vorgriff auf einen möglichen Patienten nicht möglich. Denn selbst wenn der Notfallsanitäter nach den Wünschen der ÄLRD arbeitet, muss er auch vor Ort selbst entscheiden, ob die jeweilige delegierte 2c Maßnahme in Betracht kommt. Der ÄLRD haftet generell nicht für die Maßnahmen, welche der Notfallsanitäter selbst durchführt.
RR: Wie hoch ist denn die Schwelle zum „drohenden Folgeschaden” einzuordnen? Darf ich als Notfallsanitäter Übelkeit durch Medikamentengabe beheben? Er könnte schließlich erbrechen und dies dann aspirieren.
EF: Der VGH hat hierzu ausgeführt, dass die bloße Aufrechterhaltung einer Beeinträchtigung des Wohlbefindens den Straftatbestand der Körperverletzung durch Unterlassen erfüllen kann. Zudem kommt es maßgeblich auf den vor Ort handelnden Notfallsanitäter an, ob und welche Maßnahme – nach genauer Prüfung – die einzige und sinnvolle Maßnahme für den Patienten ist. Bei der Übelkeit müsste es von vornherein – auch für Laien – erkennbar gewesen sein, dass der Patient nicht erbricht und nicht aspiriert. Somit hat der Notfallsanitäter vor allem auf die Schwere der Beeinträchtigung des Wohlbefindens bei seiner Entscheidung abzustellen.
RR: Kann ein Ärztlicher Leiter Rettungsdienst einem Notfallsanitäter verbieten, auf dem Rettungswagen vorgehaltene Medikamente zu verabreichen?
EF: Sofern der Notfallsanitäter eine Notfallsanitäterurkunde besitzt, nicht. Wenn der Notfallsanitäter die Maßnahme beherrscht und erlernt hat, so muss er sie auch durchführen können.
RR: Das ÄLRD-Gremium hat in Bayern gerade eine Kompetenzmatrix veröffentlicht. Was bedeutet dies für den Notfallsanitäter?
EF: Wie schon beantwortet, ist die Kompetenzmatrix lediglich ein „Schreiben“ der ausführenden Verwaltung. Diese Verwaltung ist hier weder als „Rechtsprechung“ noch als „Gesetzgebung“ tätig. Zudem verstößt die Kompetenzmatrix der ÄLRD so gegen geltendes Bundesrecht des NotSanG und ist deshalb mutmaßlich rechtswidrig.
RR: In den Stufendialogen zwischen Notfallsanitäter und ÄLRD wurde gelegentlich schon einmal darüber debattiert, dass der Notfallsanitäter ohne Notarzt keine Analgesie vor Ort durchführen dürfe. Wie ist diese Aussage zu bewerten?
EF: Der Notfallsanitäter muss eine Analgesie im Rahmen seiner Kompetenz und im Licht der Entscheidung des VGH vom 21. April 2021 durchführen können. Ansonsten erfüllt er unter Umständen den Straftatbestand der „Körperverletzung durch Unterlassen“. Zudem verstößt er gegen seine Garantenpflicht gegenüber dem Patienten.
RR: Die vom Notfallsanitäter nach § 2a NotSanG durchzuführenden Maßnahmen orientieren sich daran, ob diese „erlernt und beherrscht“ werden. Nachdem sich die Inhalte der Ausbildung und auch die Leitlinien verändern: Bedeutet dies, dass dem Notfallsanitäter von 2017 weniger erlaubt ist als dem Notfallsanitäter von 2022?
EF: Das kann man pauschal so nicht sagen. Es liegt an jedem Notfallsanitäter selbst, inwieweit er sich weiterbildet. Die Gesetzgebung und Rechtsprechung sind eindeutig. Ein aktiver Notfallsanitäter muss all diese Maßnahmen, welche gefordert sind, beherrschen und anwenden können. Die Option, einen Notarzt zu holen bei Unsicherheit, ist ja gegeben. Jeder Notfallsanitäter, so der VGH, muss genau prüfen, ob seine Maßnahme indiziert ist. Ebenso ist es, wenn der Notfallsanitäter sich dazu entscheidet, eine Maßnahme zu unterlassen.
RR: Wie kann ich rechtssicher auch nach beendeter Ausbildung Maßnahmen erlernen, um diese dann zu beherrschen?
EF: Eine endgültige Rechtssicherheit wird es niemals geben. Diese gibt es in keinem Beruf. Nach den Ausbildungsrichtlinien und dem vom Gesetzgeber gewollten Inhalt des NotSanG hat der Notfallsanitäter mit bestandenem Staatsexamen alle relevanten Maßnahmen erlernt und beherrscht diese auch. Die wegweisende Entscheidung des VGH vom 21. April 2021 ist zur rechtlichen Einordnung ebenfalls sehr hilfreich. Deshalb lohnt es sich diese Entscheidung zu „studieren“ – auch für die Verwaltung.
RR: Was kann mir passieren, wenn ich mich als Notfallsanitäter irre, der Patient weder in Lebensgefahr ist noch ein wesentlicher Folgeschaden droht und ich trotzdem eine invasive Maßnahme ergreife?
EF: Dazu hat der VGH einen rechtlichen „Schutzschirm“ gespannt. Der Senat hat ausgeführt, dass dann zwar objektiv ein Verstoß der Heilkunde vorliegen „könnte“, dies jedoch auch unter der Annahme eines Notfalleinsatzes eindeutig zu erkennen gewesen hätte sein müssen, dass der Patient diese Maßnahme nicht benötigt hätte. Insofern spielt es keine Rolle, ob eine medizinisch indizierte Maßnahme im Augenblick des Handelns von einem Arzt oder einem Notfallsanitäter „lege artis“ ins Werk gesetzt wird.
RR: Welche Maßnahmen sind nach § 2c NotSanG auf den Notfallsanitäter delegierbar?
EF: Im Grunde ist eine solche Delegation nach Einführung des § 2a NotSanG i. V. m. dem VGH-Beschluss vom 21. April 2021 nicht mehr von Nöten. Der Gesetzgeber wollte hierbei lediglich einen weiteren Baustein der Rechtssicherheit für die Praxis anbieten.
Dieser wird allerdings in Bayern unter dem Deckmantel der Qualitätssicherung teilweise missbraucht, um den Notfallsanitäter nicht als „Teil der Rettungskette“ zu sehen und den Notärzten ihre finanzielle Pfründe zu erhalten.
RR: Die Gabe von Betäubungsmitteln erfolgt ja nach wie vor im rechtfertigenden Notstand. Wie eng sind die juristischen Grenzen für eine derartige Situation? Welche Voraussetzungen habe ich als Notfallsanitäter, wenn ich einem Patienten ein BTM verabreiche?
EF: Die Gabe von BTM erfolgt nicht im rechtfertigenden Notstand. Die Gabe von BTM erfolgt beispielsweise unter § 4 Abs 1c NotSanG. In der BtmVV ist ausgeführt, dass es im Rahmen einer ärztlichen Behandlung auch Hilfspersonal gestattet ist, BTM zu verabreichen. Egal ob die Maßnahme unter § 2c NotSanG delegiert worden ist, der Notfallsanitäter entscheidet über die Indikation vor Ort. Denn der ÄLRD ist ja nicht vor Ort. Es widerspricht sich, dass der Notfallsanitäter eine Maßnahme veranlassen kann, wenn es der ÄLRD delegiert (was gar nicht geht, weil er nicht vor Ort ist) und wenn der ÄLRD es nicht delegiert, soll der Notfallsanitäter gleiche Maßnahmen nicht mehr können oder dürfen? Der Notfallsanitäter ist auf europäischer Unionsebene ein geregelter Heilberuf, welcher genau wie ein Arzt, im Rahmen seiner erlernten und beherrschten Maßnahmen tätig werden kann und muss.
RR: Professor, vielen Dank für dieses Interview.
Einmal mehr wird klar: Nichts ist so, wie es scheint. Entgegen der Meinung der bayerischen ÄLRD darf der Notfallsanitäter eine ganze Menge. Der Rechtsprechung nach darf er jedoch nicht nur, sondern er muss auch. Dabei darf man nicht vergessen, dass die Verantwortung hierfür immens ist. Als eigenständiger Teil der Rettungskette unterliegt der Notfallsanitäter vor Ort keinerlei Weisung, sofern er sich ohne Notarzt an der Einsatzstelle befindet. Diesem Anspruch ist gerecht zu werden: Es liegt in der Verantwortung der Rettungsdienstbetreiber und der Ärztlichen Leiter Rettungsdienste, Rettungsdienstpersonal entsprechend zu schulen, zu unterstützen und das System zugunsten der Gesundheit von Patienten nachhaltig zu verbessern – auch in Bayern.
Bildquelle: Matt Napo, unsplash