Die Mittel begrenzt, der Platz beengt, weit und breit keine Hilfe: Als Schiffsarzt hatte ich mit extremen Bedingungen zu kämpfen. Mein Abenteuer startete nach Plan – aber ein tragischer Zwischenfall zeigte, wie schnell der Wind drehen kann.
Und hier baumle ich nun, in 24 Meter Höhe am Masttop. Ein paar Monate Auszeit von der Medizin hatte ich mir gewünscht – einmal unter Segeln über den Atlantik und zurück. Was ich nicht wusste: Meine Zeit als „weiße Wolke“, bin ich doch deutschlandweit auf Rettungswachen und Notaufnahmen dafür bekannt, sollte nun endgültig vorbei sein. Von Pneumonie über Rippenserienfraktur mit Pneu bis zum psychiatrischen Notfall gab es einige Herausforderungen. Ein Erfahrungsbericht über 5.000 Seemeilen als Schiffsarzt mit druckfrischer Approbation.
Die Hitze und hohe Luftfeuchtigkeit versuchen mir einen Kinnhaken zu verpassen, als ich den ersten Schritt aus dem Flughafengebäude in Las Palmas vor der Küste Marokkos wage, doch ich bleibe standhaft. Nach kurzer Busfahrt ist im Hafenbecken bereits der Performance-Trimaran zu sehen, auf dem ich für eine Transatlantik-Segelrally als First Mate (Steuermann) und irgendwie auch für meine medizinischen Kenntnisse gebucht bin.
Der Trimaran im Vordergrund.
Ich segle bereits seit Grundschulzeiten, aber auf einem Trimaran war ich bisher noch nie unterwegs. Mein Bauch kribbelt, wenn ich mir vorstelle, dass vor uns 2 bis 3 Wochen blaues Atlantikwasser liegen, bis wir in der Karibik ankommen. Mit im Gepäck habe ich mein Medkit (zusätzlich zum vorgeschriebenen Verbandkasten an Bord). Ich habe es nach bestem Wissen und Gewissen zusammengestellt, aber aufgrund der Platzverhältnisse bewusst klein gehalten.
Eine Liste mit 12 Medikamenten kristallisierte sich, unter anderem nach längeren Gesprächen im Burgerrestaurant mit Kollegen, heraus. Neben den Standardantibiotika, Durchfallmitteln, Analgetika und Mitteln gegen Seekrankheit (wichtig!), finden sich etwas weiter unten in der Tasche auch Partyfässchen Ketanest und Adrenalin als einzige i.v.-Medikation mit MAD und i.m.-Kanüle zur Applikation. Auf ein i.v. Zugangsset hatte ich aus Platzgründen verzichtet. Außerdem Steri-Strips, ein sehr kleines chirurgisches Set zur Wundversorgung sowie Tourniquet. Besser haben als brauchen, wie sich im Verlauf herausstellen sollte.
Bereits eine Stunde vor Start, als wir zwischen Hafeneinfahrt und Startlinie bei milden 2 m Wellenhöhe auf dem Wasser hin- und herschaukeln, macht sich bei mir und einigen Besatzungsmitgliedern ein Anflug von Seekrankheit breit. Hach, wie ich dieses Gefühl vermisst hatte … Zwei Scopolaminpflaster später trat aber dann schon der Placeboeffekt, und nach 2 Stunden auch die tatsächliche Wirkung ein.
Die Scopolaminpflaster wirken drei Tage lang und werden aufgrund des starken Wirkungsgrades bei Seekrankheit und dem günstigen Nebenwirkungsprofil (heißt vor allem: Ohne wie Vomex A® müde zu machen, sodass man weiterhin arbeitstauglich ist) meistens als Mittel der ersten Wahl genannt. Besatzungsmitglied Nr. 3 wollte gegen Abend und bei inzwischen deutlichem Seegang auch ein Pflästerli ausprobieren, nachdem sie zum dritten Mal die Fische gefüttert hatte. In den allermeisten Fällen legt sich das Gefühl der Seekrankheit nach ein paar Tagen auf dem Wasser, auch bei Scopolamin-Gebrauch (eigene Erfahrung), sodass die Pflaster bei gleichbleibend starkem Seegang nicht für lange Zeit benötigt werden. Es wird Zeit fürs Abendessen.
Doch kurz nachdem wir mit dem Abspülen anfangen, knackt es im Lautsprecher. Auf dem Notkanal hören wir extrem aufreibenden Funkverkehr. Ein Segelschiff in der Nähe geriet in Not, ist aber noch recht nah an der Küste (wir hätten mehrere Stunden zur Position gebraucht) und andere Schiffe sowie Rettungskräfte waren bereits unterwegs, weshalb wir unseren Kurs gen Südwesten hielten. Was wir zu diesem Zeitpunkt nicht wussten: Wegen schweren Wetters sollte die Rettungsaktion noch knapp 20 Stunden andauern.
Es waren zwei Segler an Bord, wobei der Kapitän mit Klettergurt den Mast hochgezogen wurde, um dort etwas zu reparieren. Das ist bei 60 km/h Windverhältnissen und ordentlich Schwell, den wir hatten, nicht ohne und würde die meisten Segler wohl auch bei zeitkritischen Schäden davon abhalten, in den Mast zu gehen, wobei wir die genauen Umstände dieses Falls nie erfahren haben.
Zur Veranschaulichung, Foto von mir am Masttop hängend (anderes Schiff in der Karibik), unter Fahrt, aber mit sehr milden Bedingungen und allen getroffenen Sicherheitsvorkehrungen. Nur wenige Schiffe haben wie hier Stufen seitlich am Mast.
Um mir einen Eindruck zu verschaffen, leihe ich mir kurz Pythagoras aus: In 15 Meter Arbeitshöhe am Mast bei entsprechendem Seegang von besagtem Abend würde man insgesamt 11 Meter von rechts nach links schwingen. Aber das ist noch nicht alles: Angenommen wir haben eine Wellenperiode von 8 Sekunden, für den Offshore-Bereich nicht unüblich, fliegt man also alle 8 Sekunden 11 Meter in die eine Richtung und 11 Meter wieder zurück (~3 m/s), wobei man dazu jedes Mal auf 0 abgebremst und wieder beschleunigt wird. Verliert man im Klettergurt hängend jetzt den Halt, behält man Höhe und Position in der Luft bei, nur bewegt sich dann der Mast auf einen zu (inklusive diverser Metallstreben und -drähten, die zu den Seiten herausragen). [Angenommen gleichschenkliges Dreieck mit 17 m Schenkellänge, 20° Krängung des Schiffs zu jeder Seite, Wellenperiode 8 sek. Masthöhe bei seegängigen Yachten ca. 20 m. Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihre Ärztin oder Apothekerin.]
Bild zeigt den Mast und das Radar des Segelschiffs, nach der Rettungsaktion im Hafen. Quelle: https://maritime-executive.com/article/one-dead-in-bizarre-accident-aboard-french-yacht-off-gran-canaria
Jedenfalls muss sich der Segler bei starkem Seegang und wohl auch gerissenen dicken Metalldrähten, die den Mast stabilisieren, in diesen verheddert haben und wurde mehr oder weniger in 8 Meter Höhe am Mast von den starken Kräften zerquetscht. Jemand brüllte verzweifelt am Funk in den Hörer: „There‘s blood pouring everywhere!“ Obwohl sowohl Rettungsboote als auch Helikopter inzwischen die Position des Schiffs erreicht hatten, konnte aufgrund des Wetters mit viel Seegang und der Lage der betroffenen Person nur das zweite Besatzungsmitglied (unverletzt) zu diesem Zeitpunkt gerettet werden. Der Segler im Mast war weiterhin in den Drähten und Leinen verheddert und hat wohl noch aktiv geblutet. Er wurde am nächsten Tag bewusstlos vom Vordeck geborgen, die Rettungskräfte konnten nur noch den Tod feststellen.
Wir sprachen an Bord nicht lange darüber, aber alle hatten den Tag über eine weißere Gesichtsfarbe als sonst. Der Fall ist uns sehr nahe gegangen. Eine Erinnerung am ersten Tag unserer Reise, dass solche Dinge jederzeit passieren können und werden. Obwohl wir weder Segelboot noch Besatzung kannten, spürt man doch eine gewisse Verbundenheit auf See, insbesondere in Notlagen. Möge er in Frieden ruhen.
Wie die Reise weiterging, erfahrt ihr bald in Teil 2.
Der Beitrag erschien zuerst hier.
Wie immer gilt: Der Einzelfall entscheidet. Der Artikel erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder Richtigkeit und die genannten Empfehlungen sind ohne Gewähr. Die Verantwortung liegt bei den Behandelnden. Der Text stellt die Position des Autors dar und nicht unbedingt die etablierte Meinung und/oder Meinung von dasFOAM.
Bildquelle: Jim Davis, unpsplash