Vor über zwanzig Jahren wird am Uniklinikum Ulm ein kranker Säugling mit einem ernsten Immundefekt behandelt. Später wird eine außergewöhnliche Veränderung in der DNA entdeckt. Gibt es einen Zusammenhang?
Ein knapp einjähriger Junge wird um die Jahrtausendwende in das Universitätsklinikums Ulm eingeliefert. Er zeigt Anzeichen einer lebensbedrohlichen Immunschwäche: Wiederholte Infektionen der Atemwege, eine Lungenentzündung ausgelöst durch einen Pilz, dazu Pilzbefall an Händen und Füßen sowie alarmierend wenige Antikörper. Glücklicherweise schlägt die Behandlung mit Antikörperpräparaten und Mykostatika an, doch die Krankheitsursache bleibt lange im Dunkeln.
Mit modernsten Methoden zur genetischen Sequenzierung bringen die Forscher eine spontane Genveränderung ans Licht: Betroffen ist der Transkriptionsfaktor IRF4. „IRF4 ist dafür bekannt, dass er eine Schlüsselrolle bei der Ausbildung des adaptiven Immunsystems spielt. Wir haben vermutet, dass hier ein Zusammenhang besteht, konnten diesen aber damals noch nicht beweisen“, erklärt der Ulmer Professor Hubert Schrezenmeier.
Als die Wissenschaftler von ähnlichen Fällen erfahren, entsteht ein internationales Projekt: Der Ulmer Patient ist nicht mehr allein. Mehr als hundert internationale Wissenschaftler forschen fortan gemeinsam. Im Austausch mit den Kooperationspartnern erfahren die Forscher von insgesamt sechs weiteren Fällen. Ein Großteil dieser Kinder hatte identische, der Rest sehr ähnliche klinische Symptome wie der Ursprungspatient – und alle tragen die idente spontan aufgetretene Mutation im Gen des Transkriptionsfaktors IRF4.
Die jahrelangen Anstrengungen zahlen sich schließlich aus. Das Forschungsteam identifiziert nicht nur die gemeinsame genetische Besonderheit der sieben immunkranken Kinder, es gelingt ihm zudem, die biochemischen und zellbiologischen Mechanismen aufzudecken, die die Immunschwäche auslösen. Im Zuge einer genetischen Punktmutation wurde in der DNA-bindenden Domäne des Transkriptionsfaktors IRF4, genauer gesagt auf Position 95, die Aminosäure Threonin durch Arginin ausgetauscht, was die Bindungseigenschaften des Transkriptionsfaktors verändert. Die Mutation taucht nur auf einem Allel auf und ist dominant.
„Die Dominanz einer genetischen Variante ist bei angeborenen Immundefizienzen selten. Auch dass die Mutation bei den Kindern neu aufgetreten und bei den Eltern nicht zu finden ist, ist sehr, sehr ungewöhnlich“, erläutert Erstautor Dr. Ulrich Pannicke.
Außergewöhnlich sind auch die Auswirkungen der Mutation, die die Wissenschaftler erstmals als multimorph charakterisieren. Normalerweise führen Mutationen dazu, dass biologische Funktionen entweder verloren gehen, verstärkt werden oder dazu, dass neue hinzukommen. Bei der T95R-Mutation im Transkriptionsfaktor IRF4 passiert all das auf einmal. „Es ist die erstmalige Beobachtung eines einzigartigen Phänomens“, sagt Pannicke. Durch bioinformatische Analysen konnte nachgewiesen werden, dass das mutierte IRF4-Protein nicht nur an bislang bekannte DNA-Bindungsstellen bindet, sondern auch an Stellen des Genoms, wo es gar nicht binden sollte.
Das führt dazu, dass B-Zellen nicht richtig ausreifen und keine Antikörper bilden können. Für die T-Zellen wurde beobachtet, dass diese sich zwar regulär teilen, aber ebenso Ausreifungs- und Funktionsstörungen aufweisen. Unter anderem werden spezifische Zytokine nicht ausgeschüttet. Das Versagen der B- und der T-Zellen ist letztendlich der Grund für die Immunschwäche und erklärt die pathologische Infektanfälligkeit von Kindern mit dieser IRF4-Punktmutation. In Mausmodellen konnte dieser molekulargenetische Wirkmechanismus verifiziert werden.
Die Forscher hoffen nun, dass diese neuen Erkenntnisse therapeutischen Nutzen haben werden. Bis es soweit ist, bleiben immerhin die konventionellen Behandlungsmethoden. Einige der Patienten wurden erfolgreich mit Stammzelltransplantationen behandelt. Andere erhalten lebenslange Injektionen mit Antikörpern, wie auch der Ulmer Patient.
Dieser Text basiert auf einer Pressemitteilung der Universität Ulm. Hier findet ihr die Originalpublikation.
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