Beim Thema Suizid kommt Ärzten und Medien eine ganz besondere Rolle zu. Denn Aufklärung und Prävention sind essenziell – aber das Wie ist nicht ganz einfach.
Der Begriff „Werther-Effekt“ beschreibt das Phänomen, dass polarisierende Berichte über Suizide in den Medien Imitationssuizide nach sich ziehen können. Dieser Effekt wurde auch nach der Veröffentlichung von Goethes Die Leiden des jungen Werther beobachtet, in dem Werther durch Selbsttötung stirbt, nachdem er sich unglücklich in eine verheiratete Frau verliebt hat. Durch die schillernde Hauptperson, die ihre Emotionen ungehemmt auslebt und aus dem starren gesellschaftlichen Korsett ausbricht, wurde der Geist der Zeit getroffen und die Epoche des Sturm und Drang geprägt.
Die Suizidwelle, die das Buch auslöste, führte dazu, dass die Churfürstlich Sächsische Buchzensurbehörde schon ein Jahr nach Erscheinen den Verkauf des Werther unter Strafe stellte. Bald darauf wurde das Buch auch in Österreich und Dänemark verboten. Goethe selbst entschärfte daraufhin einige Passagen und begann das Buch mit folgender Warnung:
Du beweinst, du liebst ihn, liebe Seele,Rettest sein Gedächtnis von der Schmach;Sieh, dir winkt sein Geist aus seiner Höhle;Sei ein Mann und folge mir nicht nach.
Doch genügt eine solche Warnung, um den Werther-Effekt zu verhindern und welche Faktoren führen überhaupt dazu, dass Suizide nachgeahmt werden? Sollte man über Suizide grundsätzlich nicht sprechen oder berichten, um niemanden zu gefährden? Ein Blick auf die Grundlagen: Der Werther-Effekt kann durch alle Medien ausgelöst werden. Filme, Nachrichten, Computerspiele, aber auch Serien. Es gibt zahlreiche Beispiele für das Phänomen: Marylin Monroes Suizid oder die Ausstrahlung des Films Tod eines Schülers (1981) in Deutschland, der einen Eisenbahnsuizid zum Inhalt hat. Nach dem Suizid des Schauspielers Robin Williams und der nachfolgenden Berichterstattung kam es zu einem Anstieg der Suizidraten in den USA um fast 10 %.
Noch ist nicht hinreichend geklärt, was diesem Effekt aus psychologischer Sicht zugrunde liegt. Wissenschaftlich wird diskutiert, dass es eine Phase vor dem Suizid gibt, in dem Betroffene zwischen lebenserhaltenden und suizidalen Impulsen schwanken, die durch Medienberichte beeinflusst werden könnten. Soziale Identifikationsprozesse scheinen bei dieser Beeinflussung eine Rolle zu spielen. In einer österreichischen Studie war der Imitationseffekt dann besonders hoch, wenn die Person, über deren Suizid in der Zeitung berichtet wurde, ähnliche soziodemographische Merkmale aufwies. Gleiches konnte für Filme gezeigt werden, die mit dem Suizid des Protagonisten enden. Auch Lernen am Modell wird als Konzept im Zusammenhang mit den Nachahmungstaten diskutiert.
Zuletzt wurde vermutet, dass die Serie Tote Mädchen lügen nicht zu einer Zunahme der Suizide in den USA unter Jugendlichen im Alter von 10–19 Jahren führte. Zumindest kam es zu einer auffälligen statistischen Häufung sowohl von Suchanfragen zum Thema Suizid als auch Suizidversuchen in den ersten drei Monaten nach Erstausstrahlung der Serie. Betroffen waren vor allem Mädchen, was möglicherweise damit zusammenhängt, dass es in der Serie um den Suizid einer jungen Frau geht. Sie hinterlässt 13 Kassetten, in denen sie die Gründe für den Suizid nennt (z. B. Mobbing, unglückliche Liebe, Verrat, Gewalt durch Mitschüler; daher auch der Originaltitel der Serie, 13 Reasons Why). Die Serie weist eine ganze Reihe von Merkmalen auf, die als Risikofaktoren für das Auslösen eines Werther-Effektes gelten, was Organisationen, die sich mit Suizidprävention befassen, schon früh Alarm schlagen lies:
Ähnlich wie damals Goethe schaltete auch Netflix der Serie einen warnenden Einspieler vor, was die oben genannte Risikokonstellation jedoch nicht wettmachen kann. In Deutschland forderte der Bundesverband der Kinder- und Jugendärzte zuletzt ein Verbot der Serie, die alle Empfehlungen zum Umgang mit Suiziden in den Medien missachtet. Denn seit Goethes Zeiten gab es umfangreiche Forschung und so haben wir heute Empfehlungen für Medienschaffende zu diesem Thema – zum Beispiel von der Deutschen Depressionshilfe. Dort heißt es: „Umso größer die Aufmachung eines Berichtes über Suizid und umso emotionaler der Inhalt, desto häufiger wird es zu Nachahmungen kommen.“ Weiterhin wird geraten, die Sprache möglichst neutral zu halten und von emotionalisierenden Formulierungen wie „Freitod“ oder „Selbstmord“ Abstand zu nehmen. Berichte sollten weder tabuisieren, noch Mythen oder Vorurteile produzieren. Auch die Worte „erfolgreich“ oder „missglückt“ sollten gemieden werden, um Framingeffekte zu verhindern.
Dazu gibt es folgende Übersicht:
Credit: Deutsche Depressionshilfe
Sollte man also am besten nicht mehr über Suizide berichten und diese auch nicht zum Thema von Filmen oder Serien machen? Die Antwort lautet Nein. Denn, wie in der obigen Übersicht anklingt, gibt es auch die andere Seite der Medaille – dem Werther-Effekt steht der Papageno-Effekt entgegen. Dieser geht auf Papageno, die Hauptfigur aus Mozarts Oper Die Zauberflöte, zurück, der, ob des drohenden Verlustes seiner Angebeteten, in eine suizidale Krise gerät. Doch mit Hilfe der drei Knaben, die ihm alternative Lösungsmöglichkeiten aufzeigen, überwindet er diese Krise. Der Papageno-Effekt beschreibt das Phänomen, dass eine bedachte Berichterstattung in den Medien sogar einen präventiven Effekt in Bezug auf suizidales Verhalten haben kann.
Dass das funktioniert, zeigt das Beispiel Wien. Hier wurde in den 1980er Jahren nach Ausbau des U-Bahnsystems zunächst ein starker Anstieg der Bahn-Suizide verzeichnet. Dies wurde auch auf die reißerische Berichterstattung zurückgeführt. Daraufhin entstanden freiwillige Empfehlungen zur Berichterstattung, keine Details über Suizide zu berichten und eine neutrale Sprache zu benutzen, dabei auf Hilfsadressen und Einrichtungen hinzuweisen. Die Zahl der U-Bahn-Suizide ging daraufhin dauerhaft um 70 % zurück. Es gibt Studien, die zeigen, dass Berichte, die die Bewältigung suizidaler Krisen zum Inhalt haben, mit dem Rückgang von Suizidraten assoziiert sind. Auch konnte gezeigt werden, dass die Lebenszufriedenheit von Personen sich verbesserte, wenn sie einen Film sahen, der mit der Bewältigung einer suizidalen Krise endete.
Diesen Effekt machen sich auch edukative Webseiten zu Nutze. In einer randomisiert kontrollierten Studie konnte die Wirksamkeit solcher Seiten nachgewiesen werden, die sowohl Zahlen und Fakten zusammenfassen als auch auf Hilfsangebote aufmerksam machen und von Einzelschicksalen berichten, in denen Menschen eine Krise überwunden haben. Der Papageno-Effekt konnte auch nachgewiesen werden, nachdem Betroffene sich in Foren mit anderen Menschen darüber austauschten, wie sie diese persönliche Krisen bewältigten.
Zusammenfassend kann festgestellt werden, das suizidales Verhalten durch die Medien negativ und positiv beeinflusst werden kann. Es gibt viele Erkenntnisse darüber, welche Faktoren sich auf suizidales Verhalten auswirken. Unter Jugendlichen stellt der Suizid die zweithäufigste Todesursache dar, so dass gerade, wenn diese Zielgruppe adressiert wird, ein besonders verantwortungsbewusstes Verhalten an den Tag gelegt werden sollte. Das Thema Suizid sollte nicht verschwiegen werde. Stattdessen sollten mögliche Auswege aus den Krisensituationen aufgezeigt werden. Berichte von Menschen, die suizidale Krisen überwunden haben, wirken sich positiv auf Menschen in ähnlichen Lebenssituationen aus.
Das Hilfsangebot ist groß. Eine gute Übersicht über Angebote findet sich zum Beispiel auf der Seite der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention. Hier gibt es auch Empfehlungen für das Gespräch mit gefährdeten Personen, die auch für die ärztliche Praxis nützlich sein können. Für den Umgang mit der Serie Tote Mädchen lügen nicht im schulischen Kontext gibt es einen informativen Leitfaden. Für einen tieferen Einstig in das Thema sei auf den sehr informativen Übersichtsartikel „Medien und Suizid: Der aktuelle Forschungsstand zum Werther- und Papageno-Effekt – eine Übersichtsarbeit“ verwiesen.
Bildquelle: Diogo Nunes, Unsplash