Als Arzt auf See habe ich gelernt: Selbst der aufregendste Arbeitsplatz wird irgendwann Routine. Doch als sich ein Besatzungsmitglied plötzlich merkwürdig verhält, kippt die Stimmung an Bord.
Nach dem letzten Ereignis mit Todesfolge (nachzulesen in Teil 1), das wir als Crew nur per Funk mitbekamen, war die Stimmung etwas gedrückt. Man konnte spüren, wie sehr alle sensibilisiert waren und noch mehr als sonst auf Sicherheit achteten – insbesondere gegenseitig. Allein eine Welle, die das Deck überspült, oder ein falscher Schritt können nachts dazu führen, dass man über Bord fällt und im Getöse des Atlantiks landet. Chancen auf Rettung: schlecht, zumal man als Wachhabender alleine an Deck ist und die anderen (schlafend in der Koje) erstmal mitbekommen müssen, dass man schwimmen gegangen ist. Doch kommen wir zu Teil 2.
Installation eines Notsenders an meiner Schwimmweste für die Atlantiküberquerung. Dabei habe ich einen kurzen ungewollten Funktionstest durchgeführt und musste schnell die Hafenpolizei + Coast Guard wieder abbestellen. In orange/blau zu sehen ist die Lifeline. Sie ist an der Schwimmweste befestigt und wird benutzt, um sich an Bord mit Karabinern einzuclippen und so gegen das Überbordgehen zu schützen.
Eine Mitseglerin, die schon seit Las Palmas produktiv grünlich hustet und deswegen dort bei einer niedergelassenen Ärztin war, geht es zunehmend schlechter. Auf die Frage, ob sie die verordneten Medikamente (Azithromycin, Prednisolon, Cetirizin, Ambroxol) genommen hat, erläutert sie, dass sie nach einem Blick auf die Beipackzettel das Azithromycin nach 3 Tagen abgesetzt und den Rest gar nicht erst genommen habe. Der Husten besteht nun seit ca. 4 Wochen und jetzt kommen leichte AZ-Verschlechterung und erhöhte Temperatur hinzu. In Zusammenschau mit der aktuellen Situation und dem erfahrenen Lebensalter der Patientin bekommt sie unter der Verdachtsdiagnose Pneumonie eine antibiotische Abdeckung und ein Stoßgebet von mir, dass das Azithromycin noch wirkt – denn das ist leider das Ende der Fahnenstange meiner antibiotischen Bordapotheke.
Wir haben zwar noch nicht die Hälfte der Strecke erreicht, sondern bislang nur ein Drittel. Aber meine persönliche Entscheidungshöhe ist nun erreicht. Als die Entscheidungshöhe, oder englisch „Minimums“, bezeichnet man in der Luftfahrt während des Landeanflugs den Punkt, bis zu welchem ein Durchstarten und Abbruch der Landung sicher möglich ist. Auf unserer Strecke haben wir Wind und Welle stetig von (Nord-)Ost. Falls ab jetzt etwas an Bord passiert, weswegen wir schnellstmöglich Land ansteuern müssen, wäre es also schneller, den eigentlich längeren Weg Richtung Westen mit Wind im Rücken fortzuführen – im Gegensatz zur kürzeren Strecke nach Osten, für die wir allerdings bei Wind und Welle gegen unsere Fahrtrichtung deutlich länger brauchen. Es wären jedenfalls nur ca. 10 Tage bis zum nächsten Festland mit Motorsegeln. Ich feiere das und genehmige mir einen der letzten guten Äpfel. Obst ist ein kostbares Gut, mitten auf dem Atlantik.
Unsere Navigationskarte für die 3.000 Meilen Transatlantik (Gedächtnisprotokoll). GC: Gran Canaria, KV: Kassenärztliche Verei … ach ne, Moment, Kap Verde.
Es gibt gute und schlechte Nachrichten. Erstens, der Pneumonie-Patientin geht es besser; sie nimmt auch das Antibiotikum regelmäßig ein. Zweitens, ein anderes Besatzungsmitglied wurde in der Nacht bei ordentlich Wind und einer unglücklichen Verkettung von Umständen von einer Vorsegelschot (Spinnaker) mit Wucht zur Seite geschleudert und hat mit den Rippen auf einer Treppenstufe gebremst. In der ersten körperlichen Untersuchung zeigen sich keine sicheren Frakturzeichen, subkutanes Emphysem oder ein anderer Grund zur Sorge. Es tut aber alles weh bei Bewegung und beim Atmen. Eine Rippenfraktur kann ich nicht sicher ausschließen und so wird körperliche Schonung und Atemgymnastik angeordnet. Metamizol plus Ibu 400 mg (analgetischer Ceilingeffekt!) zur Nacht reichen zur Analgesie aus und bringen das Schmerzlevel von NRS 5/10 auf eine vertretbare 1–2.
Ein anderes Crewmitglied hat in den vergangenen Tagen besonderes Aufsehen erregt, denn immer wieder zeigten sich in stressigen Situationen Flüchtigkeitsfehler – von der Segeleinstellung und Navigation, bis hin zu sicherheitsrelevanten Vorkommnissen wie offen gelassenen Gashähnen oder falscher Bedienung der Maschine und des Autopiloten, die zu Schäden hätten führen können, wenn nicht durch andere Crewmitglieder interveniert worden wäre. Ich suche das Gespräch und merke währenddessen, dass ich noch keinen richtigen Zugang zur besagten Person finde. Wir erarbeiten gemeinsam einen Plan, wie die Vorkommnisse in Zukunft am besten vermieden werden können, was mit Dankbarkeit angenommen wird. Kurze Zeit später passieren wir ein Ruderboot (!) in wenigen Meilen Entfernung und tauschen uns ein wenig per Funk aus. Sie sind Teil einer Transatlantik-Regatta von Ruderbooten. Ruderbooten! Mitten auf dem Atlantik! Zwei Personen drauf! Und ich dachte, ich bin cool auf ’nem Segelboot. Naja, meinen ganzen Respekt haben sie.
Nach weiteren sicherheitsrelevanten Fehlern des in Tag 14 genannten Besatzungsmitglieds ruft mich der Kapitän zu sich und sagt mir, dass das Crewmitglied mit sofortiger Wirkung vom Wachdienst ausgeschlossen wird. Er schreibt bereits einen neue Watch Schedule, auf der die Wachführer eingetragen sind, um hierfür zu kompensieren. Heißt für alle anderen: paar Stunden mehr Wache pro Tag, paar Stunden weniger Schlaf. Die Amerikaner auf dem Boot nennen mich hierbei liebevoll „Dr. J“, das soll wohl ein cooler Basketballer aus vergangenen Jahrzehnten gewesen sein.
Der neue Watch Schedule.
Im Gespräch danach dekompensierte besagtes Crewmitglied leider komplett und sagte – mehr zu sich selbst als zu den anderen –, dass er jetzt sofort von Bord gehen würde, 1.000 Seemeilen von jeglichem Festland entfernt. Er war dabei keineswegs mehr zugänglich, wirkte wahnhaft und verschwand in seiner Koje, aus der wir laute Geräusche hörten. In der Vorgeschichte bestand eine psychiatrische Vorerkrankung mit Dauermedikation (wie ich erst jetzt erfahre), die eigenständig vor 4 Wochen abgesetzt worden war, da „ich die Medikamente beim Segeln nie brauche“. Leider handelte es sich bei den gemeinten Segeltörns bislang nur um Tagestrips und bei der antipsychotischen Medikation um ein Präparat zur Dauertherapie. Tausend Seemeilen vor der Küste, provoziert durch enge Raumverhältnisse, Schlafmangel, eingeschränktes Essen, soziale Konflikte, etc., was eine Atlantiküberquerung nun mal mit sich bringen kann, kippt nun die Stimmung und es kommt zu einem psychotischen Schub.
Zu meiner Therapie gibt es nicht viel zu sagen, denn ich habe von Psychotherapie herzlich wenig Ahnung und davon könnte wohl keiner der Lesenden profitieren. Doch die paar Monate freiwilliges Praktikum bei einem niedergelassenen Verhaltenstherapeuten mit Schwerpunkten Angststörungen/ADHS halfen wohl (ich wäre sonst völlig aufgeschmissen gewesen). Deshalb nur so viel: Aktives Zuhören, sokratischer Dialog und mildes Expositionstraining über ein paar Tage unter Einbindung bzw. Briefing der anderen Crewmitglieder zur Situation führten dazu, dass ich die anfangs aufgezogene i. m.-Spritze mit Ketanest wieder verwerfen konnte. Das war kein Spaß, denn der Patient war zu Beginn eigengefährdet, wie es im Buche steht. Die Besserung seines Zustands sorgte für allgemeines Aufatmen und auch ich konnte wieder besser schlafen – nein, das Ketanest habe ich dafür nicht zweckentfremdet.
„Besser Schlafen” ist hierbei relativ, denn ich wurde nachts oft auf dem Bett liegend durch die Wellen von einer Wand gegen die andere geschleudert. Ein weiterer Garant für Durchschlafprobleme waren die kurzweiligen süßen Momente, in denen der rechte Auftriebskörper des Trimarans (mit meiner Koje darin) in die Luft katapultiert wurde, um dann mit einem Krachen von 1.000 Krankenhausbett-Feststell-Geräuschen wieder aufs Wasser zu klatschen. Die Kombination aus Explosionsgeräusch mit nachfolgendem Tinnitus im Ohr und dem Gefühl von freiem Fall konnte auch bei extremer Müdigkeit kostbaren Schlaf effektiv verhindern.
2 Tage vor Ankunft in der Karibik: Der Atlantik ist uns wohlgesonnen!
Land in Sicht! Mit einem bittersüßen Beigeschmack nahmen wir die ersten Inselformationen am Horizont wahr. Seglerisch ist auch viel passiert: Unter anderem hatten wir unterwegs Wassereinbruch im Maschinenraum und eines unserer Segel ist gerissen. Nach Gesprächen mit anderen Bootscrews liegen wir mit nur einem kaputten Segel aber noch deutlich unter dem Durchschnitt ….
18 Tage gehen also zu Ende, doch ich setze meine Reise als Hitchhiker von Segelboot zu Segelboot und Insel zu Insel in der Karibik fort. Davon gibt’s auch die ein oder andere Geschichte, aber das hier ist ja ein medizinischer Blog, also spulen wir vor zum wohl heftigsten medizinischen Notfall, den ich in den Monaten erlebt habe.
Wie die Reise weiterging, erfahrt ihr bald in Teil 3.
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