Mein Patient leidet immer wieder unter Schwindel. Das erste Mal trat er nach einem Sturz auf – das ist 6 Wochen her. Aber sind die Beschwerden wirklich eine Folge des Sturzes? Ein Leitfaden durch das Schwindel-Labyrinth.
Letztens in der HNO-Praxis: Ein 45-jähriger Patient stellte sich mit Drehschwindel vor, der nach einem Sturz bei Glatteis vor sechs Wochen begonnen habe und seitdem immer wieder auftrete. Anamnesen wie diese sind nicht selten und daraus ergibt sich oftmals die auch gutachterlich relevante Frage: Ist das Trauma die Ursache des Schwindels?
Im Grunde kann jeder Schwindel nach einem Trauma auftreten, ohne dass ein kausaler Zusammenhang besteht. Aber: Aus dem Zusammentreffen von zwei oft unabhängig voneinander auftretenden Krankheitsbildern kann man nicht unbedingt auf einen Kausalzusammenhang schließen. Bei dem traumatisch bedingten Schwindel muss eine organische Ursache nachgewiesen werden. Nicht-organischer Schwindel kann demzufolge keine Traumafolge sein. Daher ist es wichtig, organischen vom nicht-organischen Schwindel zu unterscheiden.
Unser Patient gab explizit einen Drehschwindel an, der oft eine vestibuläre Ursache hat. Vestibulärer (HNO) Schwindel kann als Traumafolge auftreten. Ursächlich können Schädigungen der Gleichgewichtsorgane z. B. im Rahmen von Felsenbeinfrakturen sein; eine einseitige Schädigung imponiert klinisch als plötzlicher starker Drehschwindel mit horizontalem Nystagmus mit Übelkeit und Erbrechen. Der (Ausfall-)Nystagmus schlägt in Richtung des gesunden Gleichgewichtsorgans; der Drehschwindel ist heftig und hält für einige Tage an, bis die zentrale Kompensation einsetzt. Eine Unsicherheit mit Gleichgewichtsstörungen kann aber noch für Wochen bestehen bleiben. Auch Mikrofrakturen der Labyrinthkapsel sind denkbar, aber sogar mittels hochauflösendem CT schwierig, zu diagnostizieren.
Bei unserem Patienten waren weder ein Spontan- noch ein Provokationsnystagmus zu erkennen. Tonaudiometrisch ergab sich eine Normakusis, auch der Kopf-Impuls-Test und die Lagerungsprüfung waren unauffällig. Ebenso hatte eine cCT einen unauffälligen Befund ergeben.
Auch ohne nachgewiesene Fraktur kann ein Schädel-Hirn-Trauma mit einer Gehirnerschütterung (Commotio cerebri) einhergehen. Analog dazu wird der Begriff der Commotio labyrinthi für posttraumatischen Schwindel und Ohrgeräusch ohne Nachweis einer Substanzschädigung in der Bildgebung benutzt. Allerdings ist der Begriff nicht klar definiert und daher als Diagnose im gutachterlichen Zusammenhang wenig geeignet.
Posttraumatischer Anfallsschwindel ist die absolute Ausnahme. Ein posttraumatischer Morbus Menière kann angenommen werden, wenn ein nachweisbarer Hörschaden, eine radiologisch nachweisbare Innenohrschädigung sowie ein kurzer zeitlicher Zusammenhang zwischen Trauma und Morbus Menière vorliegen (nach B. Conrad und J. C. Aschoff). Außerdem dürfen vor dem Trauma keine Symptome eines Morbus Menière vorgelegen haben. Auch ein benigner paroxysmaler Lagerungsschwindel (BPLS) kann posttraumatisch auftreten. Da dieser aber sehr häufig spontan auftritt, muss der Kausalzusammenhang mit dem Trauma gut begründet werden und vor allem ein deutlicher zeitlicher Zusammenhang bestehen.
Da sämtliche in der Praxis durchgeführten HNO-ärztlichen Befunde unauffällig waren, stellte sich die Frage nach anderen Schwindelursachen. Auch zervikogener Schwindel kann im Zusammenhang mit den verschiedenen Verletzungsmechanismen auftreten – beispielsweise beim Aufprall eines anderen Fahrzeuges von hinten, Aufprall des eigenen Fahrzeuges auf ein anderes, aber auch durch Stauchung z. B. beim Sturz oder Stoß von oben. Dabei kann es zu einer Störung der propriozeptiven und somatosensorischen Informationen aus dem Bereich der Halswirbelsäule kommen. Auch hier gilt der zeitliche Zusammenhang als besonders wichtig: Treten die Symptome mehr als 48 Stunden nach dem Trauma auf, wird ein ursächlicher Zusammenhang immer unwahrscheinlicher.
Inwieweit vestibuläre Symptome durch den muskuloskelettalen Apparat der Halswirbelsäule entstehen können, ist ein umstrittenes Thema. Daher ist für die Frage der Kausalität der Nachweis von objektiven, reproduzierbaren und eindeutigen Symptomen, die beim Gesunden nicht auftreten, entscheidend.
Differentialdiagnostisch ist vor allem der somatoforme (psychogene) Schwindel in Betracht zu ziehen. Dieser beruht nicht auf der anfänglichen organischen Störung, sondern ist eher als Fehlverarbeitung der Bewältigung des Unfalls zu sehen. Insbesondere nach Unfallereignissen kann es zu einer Anpassungsstörung kommen, die sich in somatoformen Störungen wie Schwindel äußern kann.
Bei unserem Patienten konnten weder im HNO-Bereich noch in der Untersuchung durch den Neurologen und den Orthopäden Hinweise auf eine organische Schwindelursache gefunden werden. Zudem war auch der genaue zeitliche Zusammenhang mit dem Unfall nicht klar gegeben – Untersuchungsbefunde, die erst sechs Wochen nach dem Trauma erhoben werden können, sind natürlich nicht mehr wegweisend. Fazit: Um einen Kausalzusammenhang zwischen Schwindel und Unfall herstellen zu können, reicht ein „seit dem Unfall sind die Beschwerden da und vorher nicht“ nicht aus. Der Gutachter muss anhand reproduzierbarer Ergebnisse eine Diagnose stellen und die Kausalität begründen.
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