Ärzte, wie oft berücksichtigt ihr eigentlich das Geschlecht eurer Patienten? Und was wissen Patienten überhaupt über das Thema Gendermedizin? Eine Befragung liefert ein aktuelles Bild.
Medizinische Forschung und Lehre orientierte sich in der Vergangenheit primär an männlichen Patienten. Das Fehlen einer geschlechtsspezifischen Forschung und Gesundheitsversorgung wird auch als Gender Health Gap bezeichnet. Einer Erhebung nach wissen viele Menschen aber gar nicht, dass ihr Geschlecht im medizinischen Kontext eine Rolle spielt. Nur jeder vierte Deutsche (26 %) hat von dem Begriff Gender Health Gap gehört und gerade einmal die Hälfte (49 %) glaubt, dass ihr Geschlecht ein relevanter Faktor bei der Gesundheitsversorgung spielt.
Fakt ist aber: Das Geschlecht kann großen Einfluss auf Entstehung, Verlauf und Symptome einer Erkrankung haben. Auch die Art der Therapie und die richtige Dosierung kann bei Männern und Frauen variieren. Und nicht nur Frauen sind im Nachteil – auch bei Männern kann die Gender Health Gap zu fehlerhaften Diagnosen und Behandlungen führen, insbesondere bei Krankheitsbildern, die als eher typisch für Frauen bezeichnet werden.
In von der AXA in Auftrag gegebenen Befragungen wurden 2.040 Personen aus der Gesamtbevölkerung und 300 niedergelassene Ärzte mit dem Fachgebiet Allgemeinmedizin/Innere Medizin gefragt, wie sie zur Gender Health Gap stehen. Immerhin scheint das Thema voll im Bewusstsein der meisten Ärzte zu sein: 96 % sagen, dass das Geschlecht bei der Behandlung eines Patienten generell eine Rolle spielt. 73 % sagen, dass dies bei der Behandlung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen, wie einem Herzinfarkt, wichtig sei und 75 % sagen, dass es genauso für die Einschätzung psychischer Erkrankungen, wie einer Depression, gilt. Dass Ärzte sich dieser Unterschiede bewusst sind, kann Leben retten. Bisher erhalten Frauen etwa doppelt so häufig die Diagnose Depression wie Männer. Männer sterben deutlich häufiger an Suizid als Frauen.
Mehr als die Hälfte (55 %) der Niedergelassenen ist sich nicht sicher, ob sie in der Vergangenheit bereits eine fehlerhafte Diagnose aufgrund geschlechtsspezifischer Unterschiede gestellt hat. 5 % der Hausärzte geben an, dass sie bereits Patienten behandelt haben, die zuvor in einer anderen Praxis eine falsche Diagnose aufgrund ihres Geschlechts erhalten haben. Und 4 % der befragten Mediziner sagen, dass sie in der Vergangenheit selbst eine fehlerhafte Diagnose gestellt haben.
In der Bevölkerung scheint das Thema noch nicht so präsent zu sein: Nur 21 % der Deutschen wissen, dass das Geschlecht bei der Behandlung von z. B. Herz-Kreislauf-Erkrankungen eine wichtige Rolle spielt. Vom Begriff Gender Health Gap hat immerhin jeder Vierte (26 %) schon mal gehört. Doch gerade mal 4 % der Befragten glauben, dass sie schon mal eine falsche Diagnose aufgrund ihres Geschlechts erhalten haben, 78 % glauben nicht, dass ihnen das schon mal passiert ist.
Dass mehr Menschen zu diesem Thema aufgeklärt werden müssen, ist klar. Denn hat eine Frau Symptome wie Atemnot, Rückenschmerzen oder Übelkeit, denkt sie vielleicht nicht an einen potenziellen Herzinfarkt, da sie eher die für Männer typischen Symptomen wie Brust- und Armschmerzen erwarten würde. Der Herzinfarkt kann zu spät erkannt werden – von der Patientin und unter Umständen auch ihrem Arzt.
37 % der befragten Ärzte beklagen, dass sie im Studium oder während ihrer praktischen Ausbildung kein geschlechtsspezifisches medizinisches Wissen zu unterschiedlichen Symptomen oder Medikationen erhielten. Besonders Ärzte älterer Semester hatten diesbezüglich wohl ein Defizit: 42 % der über 60-Jährigen vs. 19 % der unter 45-Jährigen. Das Thema scheint also immer mehr in den Fokus der Ausbildung zu rücken.
„Die Gründe für das Gender Health Gap sind vielfältig“, sagt auch Carl Stichweh, Medizinstudent und Leiter des Projekts „Geschlecht in der Medizin“ in der Bundesvertretung der Medizinstudierenden in Deutschland. „Die männliche Anatomie dominiert bis heute die Lernmaterialen von Medizinstudierenden und zahlreiche Krankheiten werden noch immer häufig anhand typisch männlicher Symptome gelehrt. Wir fordern deshalb die systematische Integration von geschlechtsspezifischen Inhalten in das Curriculum aller Studierenden.“
Bildquelle: Rodion Kutsaiev, Unsplash