Influenza-A-Viren tarnen sich mit Hilfe von Ubiquitin als Zellabfall. Dadurch bindet sich das Enzym HDAC6 an deren Hülle und zerreißt diese, um den „Abfall“ zu entsorgen: die genetische Information kommt frei. Virologen haben diesen Vorgang nun aufgezeigt. Ein neuer Therapieansatz?
Das Influenzavirus wie auch andere RNA-Viren haben nach der Zellmembran ein weiteres Hindernis zu überwinden, ehe ihr genetischer Code freikommt. Die wenigen RNA-Stücke, die das Genom des Influenzavirus ausmachen, sind in einem sogenannten Kapsid verpackt. Dieses stellt während der Übertragung von Zelle zu Zelle die Stabilität des Virus sicher und schützt die Virusgene vor frühzeitigen Abbau.
Bisher hat man kaum verstanden, wie das Kapsid des Influenzavirus geknackt wird. Ein Team von Forschern hat nun eine Antwort auf diesen zentralen Aspekt der Influenzainfektion gefunden: Das Kapsid des Influenza-A-Virus imitiert einen Knäuel aus Proteinabfällen, dem sogenannten Aggresom, das entwirrt und entsorgt werden soll. Dadurch getäuscht unterstützt der zelleigene Abfallbeseitigungskomplex das Knacken des Kapsids. So trägt das Virus-Kapsid molekulare Abfallmarken der Zelle auf seiner Oberfläche. Diese Abfallmarke namens Ubiquitin ruft ein Enzym auf den Plan, eine sogenannte Histon-Deacetylase (HDAC6), die an Ubiquitin bindet. HDAC6 bindet gleichzeitig Gerüst- und Motorproteine, die durch Zug den vermeintlichen „Abfallkomplex“ auseinander zerren und der Entsorgung zuführen. Durch diese mechanische Arbeit zerreisst das Kapsid, sodass das genetische Material des Virus frei kommt. Dank ihrer geringen Grösse passen die RNS-Erbmoleküle durch die Poren des Zellkerns. Dort angelangt beginnt die Zelle, die Viren-Gene zu vervielfältigen und neue Virenproteine zu bauen.
Für die Forscher war dieser Mechanismus eine grosse Überraschung. Das Abfallentsorgungssystem einer Zelle ist zentral, um Proteinabfall zu eliminieren. Kann die Zelle diese Müll-Eiweisse, die aufgrund von Hitze oder Stress entstehen, nicht schnell genug entsorgen, bildet der Abfall Aggregate. Um die Aggregate loszuwerden, mobilisiert die Zelle ihre Maschinerie, die Klumpen in Einzelteile zerlegt und abbaut. Genau diesen Mechanismus nützt das Influenzavirus aus. Überrascht waren die Forscher jedoch auch darüber, wie lange es dauert, bis sich das Kapsid öffnen lässt: rund 30 Minuten. Die gesamte Infektionsdauer vom Andocken auf der Zelloberfläche bis zum Eintritt der RNS in den Zellkern dauert zwei Stunden. „Der Vorgang dauert länger und ist komplexer, als wir erwartet haben“, sagt Yohei Yamauchi, Postdoc bei Prof. Dr. Ari Helenius, der HDAC6 aufspürte, und zwar mit einem Screeningverfahren von menschlichen Proteinen, die er daraufhin prüfte, ob das Virus sie braucht. Der Erstautor der Studie, Indranil Banerjee, bestätigte in seiner Folgestudie schliesslich, dass HDAC6 tatsächlich für die Kapsidöffnung zentral ist.
Die endgültige Antwort erhielten die Wissenschaftler dank eines Mausmodells. Fehlte einer Mauslinie das Protein HDAC6, so war die Influenzainfektion viel schwächer: Den Influenzaviren fehlte der zentrale Verankerungspunkt für die Anbindung an das Abfallentsorgungssystem. Dennoch ist das Fehlen von HDAC6 kein vollständiger Schutz. Mit ihrer Studie haben die Forscher um Biochemieprofessor Ari Helenius laut eigener Aussage Neuland beschritten. Es gebe kaum Studien zu der Frage, wie ein tierisches Virus sein Kapsid öffne. Dabei sei dies einer der wichtigsten Schritte während einer Infektion, sagt der Virologe.
„Wir haben die Komplexität, die mit dem Auspacken des Kapsids einhergeht, allerdings unterschätzt“, räumt Helenius ein. Er selbst habe vor 20 Jahren darüber eine Arbeit geschrieben, das Thema aber nicht weiter verfolgt. Gelungen sei es nun, da man über neue systemische Ansätze verfüge, um solche komplexe Systeme zu erforschen. Ob sich die Erkenntnis therapeutisch nutzen lässt, ist noch offen, da das Fehlen von HDAC6 die Infektion nur mildert, aber nicht ganz verhindert. Die bisher bekannten Hemmstoffe gegen HDAC6 zielen auf seine zwei aktiven Bereiche ab. Die Blockade der enzymatischen Tätigkeit hilft aber nicht, die Anbindung von HDAC6 an die Abfallmarke Ubiquitin zu verhindern. „Da müsste man einen Stoff finden, der die Ubiquitin-Bindestelle blockiert“, sagt Yamauchi. Auf Grund der Struktur von HDAC6 scheint dies aber möglich und weiterführende Experimente sind bereits geplant. Originalpublikation: Influenza A virus uses the aggresome processing machinery for host cell entry Indranil Banerjee et al.; Science, doi: 10.1126/science.1257037; 2014