Verdauungshormone machen es möglich: Beim Kongress der Diabetologen ist die Aufregung über gewichtsreduzierende Therapien mit Händen zu greifen. Aber vergesst die körperliche Bewegung nicht!
Wenn wir älter werden, nimmt die Insulinproduktion ab, und das Insulin, das noch produziert wird, funktioniert weniger gut. Auch in Sachen Insulinresistenz ist Älterwerden nichts für Feiglinge. Besser wird in Sachen Zucker beim Typ-2-Diabetes jedenfalls selten etwas mit zunehmender Zahl an Lebensjahren. Umso erstaunlicher, dass immer mehr Diabetologen das R-Wort in den Mund nehmen: Remission bei Typ-2-Diabetes ist nicht mehr nur ein Thema von Adipositas-Chirurgen. „Der Typ-2-Diabetes ist eine chronisch fortschreitende Erkrankung, aber Remissionen sind möglich. Wir erreichen sie bei einem Gewichtsverlust im zweistelligen Prozentbereich“, sagte der Präsident des diesjährigen Kongresses der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG), Prof. Matthias Blüher von der Universität Leipzig.
Bisher sei das ohne Chirurgie in der Regel unerreichbar gewesen, so Blüher. Auch mit Medikamenten kam man nicht in die Größenordnungen, die die Adipositas-Chirurgie erreicht: „Drei bis fünf Prozent durch Ernährung und Bewegung waren realistisch. Mit Medikamenten haben wir bisher vielleicht acht Prozent geschafft“, so Blüher. Inkretin-Analoga – entweder GLP-1-Agonisten oder die neueren, dualen Inkretin-Agonisten – schaffen dagegen, adäquat hoch dosiert, problemlos zehn bis 15 Prozent. Im Mittel wohlgemerkt.
Dass das reicht, um Remissionen zu erreichen, haben randomisierte Studien mit Semaglutid, Tirzepatid und anderen gezeigt – ein kürzlich publizierter, frei zugänglicher Review hat die Datenlage schön zusammengefasst. Remissionen – in der Regel definiert als ein HbA1c-Wert unter 5,7 Prozent ohne (weitere) Diabetes-Medikamente – gelingen zum Beispiel bei Tirzepatid je nach Dosis und Patientenkollektiv bei bis zu 50 Prozent der Typ-2-Diabetes-Patienten, bei Semaglutid 1 mg sind es um die 20 Prozent.
Blüher betonte, dass auch Ernährung und Bewegung in einigen wenigen Fällen zu Remissionen eines Typ-2-Diabetes führen können. Gezeigt hat das vor allem die DiRECT-Studie mit einem extrem stringenten Lifestyle-Interventionsprogramm. „Aber da dürfen Sie dann wirklich nur sehr wenig essen“, so der Diabetologe. Anders ausgedrückt: Das klappt in aller Regel nicht. Blüher wies auch darauf hin, dass Remission nicht mit Heilung verwechselt werden dürfe. Längerfristige Remissionen ließen sich bei etwa zwanzig bis dreißig Prozent jener Patienten erreichen, die mit Inkretin-Analoga im erforderlichen Umfang abnehmen. Auch in der Adipositas-Chirurgie seien Typ-2-Diabetes-Remissionen im Regelfall nicht dauerhaft. Sie könnten aber lang anhalten, in einigen Fällen seien 15 bis 20 Jahre beschrieben.
So ganz wohl ist manchem Diabetesexperten angesichts der vermutlich erst am Anfang stehenden Inkretin-Analoga-Ära aber nicht, auch das wurde beim Kongress in Berlin deutlich. Zum einen: Was, wenn die neuen Medikamente in Sachen Lifestyle zu einer unerwünschten und letztlich kontraproduktiven Laissez-faire-Mentalität führen? „Im schlimmsten Fall führen die neuen Therapieformen dazu, dass die wichtige Säule Bewegung noch mehr in Vergessenheit gerät als ohnehin schon“, sagte Prof. Christine Joisten von der Deutschen Sporthochschule in Köln.
Sie plädierte dafür, körperliche Bewegung dem Zeitgeist folgend als Inkretin-Analogon zu „branden“, oder auch als „Polypille“, die sich auf diverse Organsysteme und Regelkreise des metabolisch belasteten Körpers günstig auswirke. Auch sollten die in der Patientenkommunikation vermittelten Bewegungsbotschaften positiver sein. Ein Zielbild von 150 bis 300 Minuten moderater und 50 bis 75 Minuten intensiver körperlicher Betätigung pro Woche sei für viele abschreckend, so Joisten. Wenn dagegen kommuniziert werde, dass jeder Schritt zähle und 1.000 Schritte schon mit 6 bis 10 Minuten zusätzlichem Gehen erreichbar seien, dann werde die Sache deutlich niedrigschwelliger.
Neben der Sorge vor den Effekten auf einen gesunden Lebensstil plagt die Diabetologen noch eine zweite Sorge im Zusammenhang mit den Inkretin-Analoga. Sie wurde von Prof. Baptist Gallwitz vom Universitätsklinikum Tübingen artikuliert: Der zunehmende Einsatz von Inkretin-Analoga als gewichtsreduzierende Lifestyle-Medikamente führe dazu, dass es mittlerweile vielfach Lieferschwierigkeiten gebe. Und darunter litten jene Patienten, die diese Medikamente aus medizinischen Gründen indikationskonform verschrieben bekommen.
„Ob medikamentöse Hebel bei Adipositas nötig sind, ist eine offene Frage. Was wir aber ganz klar ablehnen ist, wenn Menschen mit nur leichtem Übergewicht aus Lifestyle-Gründen solche Medikamente erhalten, sie ein paar Wochen nehmen und das Ergebnis dann stolz auf Social Media posten. Das geht nicht – dieser Hype muss aufhören“, so Gallwitz, der nachschob, dass er diesbezüglich allerdings nicht sehr zuversichtlich sei.
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