Menschen mit unsicheren Bindungen in der Kindheit verarbeiten Traumata und Verluste anders als Menschen mit sicheren Bindungen. Unter anderem glauben sie stärker an Übernatürliches, wie amerikanische Psychologinnen in einer aktuellen Studie nachwiesen.
Der Verlust eines nahestehenden Menschen löst häufig das Gefühl aus, dass ein Teil von einem selbst gegangen ist. Jeder Mensch verarbeitet seine Trauer anders. Dabei hat die Bindungsqualität, die man in frühester Kindheit zur eigenen Mutter hatte, anscheinend einen großen Einfluss darauf, wie ein traumatisches Ereignis bzw. wie der Tod eines nahestehenden Menschen verarbeitet wird. Wenn ein nahestehender Mensch stirbt, kann das Bindungssystem in der Psyche zusammenbrechen – ebenso ist es, wenn ein nahestehender Mensch sich als missbrauchender Täter entlarvt. Einige Studien weisen darauf hin, dass die Verarbeitung eines Traumas besonders dann schwer fällt, wenn der Betreffende hauptsächlich auf unsichere Bindungen in seiner Kindheit zurückblicken kann. Kinder, die nur wenig Liebe erfahren, die häufig abgelehnt und/oder misshandelt werden, versuchen, diesen Mangel an Zuwendung auszugleichen. Manche flüchten sich im Laufe ihrer Entwicklung in esoterische oder religiöse Welten. Nicht wenige finden Trost in dem Gedanken, dass wenigstens ein Gott sie liebt oder lieben könnte. Studien haben gezeigt, dass unsicher gebundene Kinder im Erwachsenenleben religiöser sind als sicher gebundene Kinder.
Während manchen der Glaube an Übernatürliches hilft, können andere verstärkt unter Ängsten leiden. Menschen, die psychisch leiden, die unsichere Bindungen haben oder gerade einen Verlust erlebt haben, neigen zur psychischen Dissoziation – das heißt, sie erleben Amnesien oder Gefühle der Depersonalisation oder der Derealisation. Sie erleben sich und ihre Welt als unwirklich und spüren nur wenig festen Halt. Die Psychologinnen Paula Thomson und Victoria Jaque der California State University, USA, wollen nun herausgefunden haben, wie sich Menschen mit sicheren und unsicheren Bindungen in ihrer Verarbeitung von Traumata und Verlusten voneinander unterscheiden. Für ihre Studie fanden sie 82 College-Studenten, die einen nahestehenden Menschen verloren und/oder etwas Traumatisches erlebt hatten. Die Autoren nutzten das Adult Attachment Interview (AAI) von Mary Main und Erik Hesse, um den vorrangigen Bindungsstil der Studienteilnehmer zu ermitteln.
Dieser Test leitet sich ab von der Bindungstheorie von John Bowlby und der Psychoanalytikerin Mary Ainsworth. Die Analytikerin stellte in einem Experiment namens „Strange Situation“ fest, dass sich das Bindungsverhalten von Kindern unterschiedlich einteilen lässt. Trennt man kleine Kinder von ihrer Mutter und lässt sie einige Minuten ganz allein oder zusammen mit einer fremden Person allein, kann man am Verhalten bei der Rückkehr der Mutter häufig sehen, ob das Kind sicher oder unsicher an seine Mutter gebunden ist. Sicher gebundene Kinder weinen, wenn die Mutter den Raum verlässt und suchen Trost bei ihr, wenn sie zurückkommt. Unsicher gebundene Kinder zeigen hingegen unterschiedliches Stressverhalten und zögerndes Verhalten bei der Rückkehr der Mutter. Auch das AAI unterscheidet zwischen sicheren und unsicheren Bindungen. Hiernach können Erwachsene diese verschiedenen Bindungsstile zeigen: Typ F (free) = frei und autonom, Typ D (dismissing) = ablehnend, Typ E (entangled) = verstrickt, Typ U (unresolved) = ungelöst (im Sinne von: ein Trauma wurde noch nicht verarbeitet) sowie Typ CC = nicht näher klassifiziert. Entscheidend für die Studie von Thomson und Jaque war die Typ-U-Bindung, also der Bindungsstil, den Menschen zeigen, die ein Trauma oder einen Verlust noch nicht verarbeitet haben. Diese Menschen können sich schlecht auf das Interview einlassen und sind noch stark mit dem Vergangenen beschäftigt. In der vorliegenden Studie konnten die Autoren 26 Studenten als „Typ U“ kategorisieren. Die übrigen 56 Studenten wiesen keine solche „psychische Nicht-Verarbeitung“ auf – sie gehörten zum „Typ non-U“. 80 Teilnehmer (97,6 %) hatten kürzlich eine nahestehende Person verloren. 29 Teilnehmer (35,4 %) hatten in der Kindheit Missbrauch durch ein Familienmitglied erlebt und 33 Teilnehmer (40,2 %) wurden durch Nicht-Familienmitglieder traumatisiert. Studenten des Typ U wiesen unter anderem folgende Merkmale auf: Sie waren teilweise örtlich oder zeitlich desorientiert, sie sprachen teilweise verworren, sie konnten Ereignisse sehr detailliert beschreiben, hatten starke Zweifel bei den Themen „Missbrauch“ und „Tod“, wechselten plötzlich das Thema, litten an einschießenden, beängstigenden Bildern, schwiegen länger als 20 Sekunden, beendeten ihre Sätze nicht oder verfielen in eine kindliche Sprache. Die Teilnehmer des „U-Typ“ wiesen signifikant häufiger Dissoziationen und einen Glauben an Übernatürliches auf als die Teilnehmer, die zum „Non-U-Typ“ zählten. Die Autoren konnten allerdings nicht herausfinden, ob der Glaube an Übernatürliches den Teilnehmern dabei half, die Gefühle von Verlust und Trauma abzumildern.
Diese Ergebnisse spiegeln Einiges von dem wider, was bereits der Kinderanalytiker Donald Winnicott (1896-1971) über die Notwendigkeit des „Übergangsraums“ sagte. Er beschrieb, dass sich kleine Kinder häufig in einem Raum zwischen Illusion und Realität befinden. Der Erlebnis-Raum, der sich zwischen dem Ich und dem Nicht-Ich befindet, ist der Übergangsraum, der im Erwachsenalter – so Winnicott – den Raum für Kunst und Religion bildet. Mütter helfen ihren kleinen Kindern dabei, die Realität häppchenweise anzunehmen. Kann die Mutter nicht ausreichend auf ihr Kind eingehen, leidet auch der „Übergangsraum“. Manche Kinder werden zu früh zu hart mit der Realität konfrontiert, andere bleiben eher in einer „Wolke“ der Illusion und Phantasien hängen. Auch der britische Psychoanalytiker Ronald Britton beschreibt, wie sehr Glaube, Phantasie und Religion von einem „Denkraum“ abhängen. Erst ein Denkraum ermöglicht es überhaupt, zu glauben.
Denkräume können aber auch zusammenbrechen. Zum Beispiel zeigen Menschen mit einer Borderline-Störung häufig eine verminderte Fähigkeit, über sich selbst und andere nachdenken zu können (sprich: zu mentalisieren). In einer engen Beziehung oder unter Stress kann diese Fähigkeit, nachzudenken, unter Umständen ganz zusammenbrechen (Bateman & Fonagy, 2008). Das kennen wohl die meisten Menschen gelegentlich aus Situationen, die starken (Beziehungs-)Stress auslösten.