Mit Organoiden lässt sich die Entstehung des Gehirns genauer untersuchen. Forscher nutzen sie jetzt auch für die Erforschung einer bestimmten Form der Autismus-Spektrum-Störung.
Im Gehirn sorgen Mikroglia unter anderem dafür, dass beschädigte Nervenzellen zerstört und ihre Überreste abgebaut werden. Sie können aber auch das Wachstum von Neuronen fördern. Dadurch spielen sie eine wichtige Rolle für die Entstehung des Gehirns, jedoch auch für Erkrankungen des Nervensystems.
Vieles über die Funktionsweise von Mikroglia ist bislang unbekannt. Ein Grund dafür ist, dass sie sich unter Laborbedingungen grundsätzlich anders verhalten als im menschlichen Körper. Ein internationales Forschungsteam, an dem Simon Schäfer, Professor für Advanced Organoid Technologies for Mental Health Research an der Technischen Universität München (TUM), maßgeblich beteiligt war, schildert in Cell einen Lösungsansatz für dieses Problem.
„Außerhalb des Gehirns verlieren Mikroglia fast jede Funktion”, sagt Prof. Rusty Gage, Letztautor der Studie vom kalifornischen Salk Institute. „Wir bilden deshalb die Umgebung des Gehirns in einem Organoid nach, um menschliche Mikroglia zu studieren. So erhalten wir ein Instrument, um zu untersuchen, wie das gesunde und das kranke Gehirn die Mikroglia beeinflussen – und umgekehrt, wie gesunde und kranke Mikroglia das Gehirn beeinflussen.“
Gehirn-Organoide im Labor von Prof. Simon Schäfer. Credit: Andreas Heddergott/TUM.Das Team entwickelte zum einen ein Verfahren, um Mikroglia aus menschlichen pluripotenten Stammzellen herzustellen. Zum anderen gelang es den Forschern, ebenfalls aus Stammzellen ein etwa fünf Millimeter großes Organoid herzustellen. Anders als mit bisherigen Gehirn-Organoiden lässt sich mit diesem nicht nur die frühe Entwicklungsphase des Hirns nachstellen, sondern auch spätere Stadien. Das ist eine wichtige Voraussetzung für das Studium von Erkrankungen, die erst im späteren Verlauf des Lebens auftreten.
„Organoide werden oft als eine Art Mini-Version eines Organs beschrieben“, sagt Schäfer. „Das weckt in diesem Fall aber falsche Assoziationen. Das Gehirn verbindet man mit Bewusstsein, mit Empfindungen und Denken. Dazu können unsere Organoide nie in der Lage sein – und sollen es auch nicht.“ Zwar beinhalten die Organoide Nervenzellen, die auch untereinander kommunizieren, erläutert Schäfer. Es fehlen jedoch die Vernetzungen verschiedener Bereiche, die Denken und Bewusstsein erst ermöglichen. „Nüchterner betrachtet kann man von dreidimensionalen Zellsystemen sprechen, mit denen wir einzelne Aspekte der Hirnentwicklung nachstellen“, sagt Schäfer.
Als nächsten Schritt entwickelte das Team ein Verfahren, um die gezüchteten Mikroglia in Organoide einzupflanzen. Damit stellen die Wissenschaftler einen weiteren Prozess in der Entstehung unseres Gehirns nach: Mikroglia wandern erst ungefähr ab der fünften Schwangerschaftswoche in den Bereich, der später zum Gehirn wird.
Bislang entspricht das Verhalten der Mikroglia allerdings auch in Organoiden in der Kulturschale nicht dem im menschlichen Körper. Das Team konnte die Organoide jedoch in den Körper von Mäusen einsetzen. In einem lebenden Organismus verhielten die Mikroglia sich wie ihre Pendants im Gehirn. Sie vermehrten sich und konnten beschädigte Neuronen des Organoids beseitigen. „Wir arbeiten jetzt daran, herauszufinden, wie wir unsere Organoide auch in der Kulturschale dazu bringen, sich wie im Körper zu verhalten“, sagt Schäfer.
Mit den neuen Organoidsystemen wollen die Forscher einerseits neue Erkenntnisse über die Entstehung des Gehirns gewinnen. Andererseits können sie helfen, individuelle Erkrankungen besser zu verstehen: Aus Hautzellen von drei Patienten mit Makrozephalie-Autismus erzeugten die Wissenschaftler Stammzellen und aus diesen wiederum jeweils Organoide und Mikroglia-Zellen. Vorangegangene Studien hatten ergeben, dass sich bei dieser Autismus-Spektrum-Störung Neuronen und Mikroglia ungewöhnlich verhalten. Jetzt konnte das Team zeigen, dass diese Unterschiede auch in den Organoiden auftraten.
„Unsere Versuche haben gezeigt, dass Mikroglia in Organoiden aus Stammzellen von Patient:innen aggressiver auf beschädigte Zellen reagieren als in Organoiden aus Zellen von Personen aus der Kontrollgruppe“, sagt Schäfer. Die aggressive Reaktion trat auch auf, wenn Mikroglia aus den Stammzellen der Kontrollgruppe in Gehirn-Organoiden von Patienten eingebracht wurden. Dementsprechend ergebe sich das Verhalten offenbar eher durch das Umfeld der Mikroglia als durch ihre eigenen Eigenschaften. Das könne eine Erklärung für den Ursprung der Entzündungsprozesse im Gehirn sein, die bei dieser Erkrankung häufig auftreten.
„An der TUM werden wir das Gehirn-Modell weiterentwickeln, um neue Zusammenhänge zwischen Gehirn und Immunsystem zu finden“, sagt Schäfer. „Darüber hinaus wollen wir aus den stammzell-induzierten Gliazellen Ansätze entwickeln, um bei Hirnschädigungen das betroffene Gewebe reparieren oder ersetzen zu können.“
Dieser Artikel basiert auf einer Pressemitteilung der Technischen Universität München. Die Originalpublikation haben wir euch hier und im Text verlinkt.
Bildquelle: Hugöl Hälpingston, Unsplash