Krankenpfleger Niels H. tötete 85 Patienten. Wie konnte es so weit kommen? Erfahrt hier, auf welche Warnhinweise ihr in eurem Arbeitsumfeld achten solltet.
Der Autor ist unserer Redaktion bekannt, möchte aber anonym bleiben. Wir verwenden aus Gründen der Lesbarkeit das generische Maskulinum; das bedeutet nicht, dass es sich bei Tätern und Opfern ausschließlich um Männer handelt.
Es war ein Fall, der großes öffentliches Aufsehen erregte und viele Menschen erschütterte: Krankenpfleger Niels H. wurde wegen 85-fachen Mordes an Patienten zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Um sich bei Reanimationen zu profilieren, spritzte er Patienten Ajmalin, bis diese reanimationspflichtig wurden. Jahrelang mordete er auf verschiedenen Stationen in verschiedenen Krankenhäusern und das, obwohl längst Verdachtsmomente gegen ihn vorlagen. Was kann man aus diesem Fall lernen? Wodurch werden solche Taten begünstigt? Was kann man tun, um sie zu verhindern oder zumindest frühzeitig aufzudecken? Doberentz et al. schreiben in „Tötungsdelikte im Gesundheitswesen“: „Das Wichtigste zur Verhinderung derartiger Tötungsserien ist, dass überhaupt an die Möglichkeit von Patiententötungen gedacht wird.“
Der Fall Niels H. ist die größte Mordserie der deutschen Nachkriegsgeschichte. Ihm sind wahrscheinlich noch weit mehr Menschen zum Opfer gefallen, als ihm schlussendlich nachgewiesen werden konnten. Dennoch handelt es sich nicht um einen Einzelfall. Der Fall ist einer von 76 seit den 1970er Jahren weltweit dokumentierten Fällen von Patiententötungen mit einer vermuteten Opferzahl von insgesamt 7.829. Karl Heinz Beine ist Psychiater, Buchautor und Spezialist für Patiententötungen mit dem Schwerpunkt deutschsprachiger Raum. Er geht davon aus, dass ca. 21.000 Patienten pro Jahr getötet werden. Die Dunkelziffer ist also hoch und dürfte im ambulanten Rahmen, wo weniger in Teams agiert wird, noch höher sein als im stationären Setting.
Beine beschreibt nach seinen Analysen der Fälle von Patiententötungen einen Tätertypus, der sich beruflich und ethisch dazu verpflichtet hat, zu helfen. Seinen Untersuchungen nach sind die Täter statisch gesehen häufiger männlich als weiblich, auch wenn aufgrund der hohen Zahl an Frauen im Gesundheitswesen in absoluten Zahlen seit 1970 etwa gleich viele Frauen wie Männer wegen Mordes verurteilt wurden. Weltweit sind auch Fälle beschrieben, in denen die Taten durch Ärzte begangen wurden; in den von Beine untersuchten Fällen waren die Täter in der Pflege tätig. Sie waren meist jung, hochmotiviert und hatten sich oft schon in der Kindheit dazu entschlossen, anderen Menschen helfen zu wollen. Im Team nahmen sie häufig eine Außenseiterrolle ein.
Täterspezifische Frühwarnzeichen sind laut Beine eine ausgeprägte Selbstunsicherheit in Kombination mit Geltungs- und Machtstreben, die mit einem Empathie-Verlust einhergehen. Diese Persönlichkeitsstrukturen und hohen Erwartungen an Anerkennung und Bewunderung kollidieren mit der Realität schlechter Arbeitsbedingungen, hoher Arbeitsbelastung, geringer Entlohnung, ungelöster Konflikte im Kollegenkreis, Konflikten mit Patienten, die als pflegebedürftig, sogar aggressiv und undankbar empfunden werden. Dadurch baut sich nach Beine ein Leidensdruck auf, der ohne, dass der Täter es merkt, auf die Opfer projiziert wird – ein Prozess, der als identifikatorischer Grenzverlust bezeichnet wird. Die Täter spalten ihre negativen Gefühle ab und übertragen sie auf die Patienten. Sie sehen in den Opfern Leidende, die durch sie erlöst werden. Sie üben dadurch Kontrolle aus, was ihren Leidensdruck vorübergehend mindert. Aus „Mitleid“ machen sie mit dem unerträglichen Schicksal der Patienten Schluss, ignorieren jedoch die Tatsache, dass sie die Patienten und ihre Wünsche überhaupt nicht kennen und niemand sie um eine Tötung gebeten hat.
Zudem wird paradoxerweise häufig auch noch eine leidvolle Todesart wie Ersticken ausgewählt, bei Opfern mit eigentlich guter Prognose. Niels H. stellt bezüglich des Motivs eine Ausnahme dar. Er gab selbst an, die Opfer getötet zu haben, um in den Notfallsituationen einen Kick zu empfinden und von seinem Umfeld für seine Fähigkeiten in Notfallsituationen bewundert zu werden. Menschen entwickeln sich zu Tätern, es handelt sich um einen graduellen Prozess, an dessen Anfang Warnzeichen stehen.
Laut Beine gibt es Warnhinweise, die das Umfeld hellhörig werden lassen sollten, z. B. überzufällige Häufigkeit der Anwesenheit bestimmter Personen während des Eintretens von Not- und Todesfällen. In den Dienstzeiten von Niels H. starben mehr als doppelt so viele Patienten als in den Dienstzeiten aller anderen Kollegen. Die Opfer verstarben für die Behandler häufig überraschend. In den durch Beine analysierten 12 Fällen von Serientötungen fällt auf, dass die Täter schon Jahre vor der Verhaftung auffällige Spitznamen trugen (Todesengel, Vollstrecker, Todesvogel). Die Teams hatten bemerkt, dass mit den Tätern etwas nicht stimmte und man tauschte sich darüber aus, ohne die Täter jedoch direkt auf die Verdachtsmomente anzusprechen. Es sind sogar Fälle beschrieben, in denen im Nachhinein davon ausgegangen werden muss, dass vereinzelt Kollegen die Täter sogar zu Taten ermunterten.
Die Täter zeichnen sich laut Beine im Alltag durch eine zunehmend verrohende Sprache und im Verlauf auch inadäquaten Umgang mit den Patienten aus. Durch Kollegen wurden Reserviertheit, Anspannung, zynische und verunglimpfende Kommentare, grobe Sprache und aggressive Ausbrüche beobachtet. Eine überdurchschnittliche Unsicherheit und ausgeprägte narzisstische Persönlichkeitsmerkmale wurden bei allen Tätern festgestellt. Die Verunsicherung wurde von den Tätern als Schwäche empfunden, die nicht mit ihrem Selbstbild vereinbar war und deshalb verheimlicht und verdrängt wurde. Je länger die Täter mordeten, desto weniger bemühten sie sich, die Taten zu vertuschen, da sie häufig die Erfahrung machten, dass selbst eindeutigen Hinweisen keine Konsequenzen folgten. So warf Niels H. zum Beispiel leere Ampullen mit Ajmalin, das nie jemand angeordnet hatte, nach den Taten einfach für alle sichtbar in den Mülleimer. Auch der überdurchschnittlich hohe Verbrauch bestimmter Medikamente sollte das Umfeld aufhorchen lassen. So wurde während der Tätigkeit von Niels H. auf der Station in Delmenhorst siebenmal mehr Ajmalin verbraucht als vorher. Der Befund wurde nicht hinterfragt, sondern das Medikament einfach nachbestellt, obwohl es nie ärztlich verordnet worden war.
Warum werden die Fälle so lange nicht entdeckt und so spät zur Anzeige gebracht? Die Gewalttaten geschehen in einem Umfeld, in dem Tod und Sterben zum Alltag gehören. Zumeist sind die Opfer alt und erkrankt, so dass ein Ableben nicht unwahrscheinlich ist. Dennoch muss darauf hingewiesen werden, dass auch junge Patienten von Tötungsdelikten betroffen sein können. Das jüngste nachgewiesene Opfer von Niels H. war erst 34 Jahre alt. 2019 wurde Elena W. wegen versuchten Mordes, gefährlicher Körperverletzung und Misshandlung von Schutzbefohlenen an 3 Frühgeborenen zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Als Tötungsmethoden wurden in 52 % der weltweit 79 seit 1970 untersuchten Fälle von Patiententötungen Medikamente injiziert. Dazu gehörten Opiate, Kalium, Antiarrhythmika und Insulin. Weitere Methoden waren das Ersticken mit weicher Bedeckung das Einfüllen von Wasser in die Atemwege, das Erzeugen von Luftembolien oder das Manipulieren von lebenserhaltenden Geräten.
Das Problem ist, dass durch die genannten Tötungsmethoden kaum bis keine nachweisbaren äußerlichen Spuren entstehen. Auch die Leichenschau kann die Tötung in solch einem Fall nicht aufdecken. Zudem sind Leichenschauen häufig defizitär. Das liegt an mangelnden Kenntnissen, Zeitdruck, Unsicherheit und der Sorge vor den umfangreichen Konsequenzen bei der Angabe einer nicht natürlichen Todesursache. In den von Beine untersuchten 12 Tötungsserien in Österreich, Deutschland und der Schweiz wurde in keinem Fall die Gewalttat durch die Leichenschau aufgedeckt und das, obwohl unter den Fällen auch solche waren, bei denen eindeutige Zeichen von Gewaltanwendung an den Opfern zu erkennen waren. Nach dem Fall von Niels H. wurde das Bestattungsgesetz in Bremen sinnvollerweise dahingehend angepasst, dass die Todesfeststellung und die Leichenschau entkoppelt wurden. Den Tod darf dabei jeder Arzt feststellen, jedoch braucht es für die Leichenschau eine spezielle Zusatzqualifikation.
Da die Leichenschau einen Verdacht nicht immer erhärten kann, ist es umso wichtiger, im Alltag auf Auffälligkeiten und Unregelmäßigkeiten zu achten und die Gefahr von Patiententötungen im Hinterkopf zu behalten. Doch selbst wenn im Zusammenhang mit den Tätern Auffälligkeiten erkannt wurden, ließ man sie oft trotzdem jahrelang weiter gewähren; die Gründe hierfür sind vielfältig. Ein Teil des Problems ist laut Doberentz et al. das kollektive Wegschauen. Das Umfeld rechnet schlicht nicht damit, dass jemand zu solchen Taten im Stande ist. Der Gedanke daran, dass der Kollege im eigenen Team ein Mörder ist, erscheint so absurd und erschreckend, dass Verdachtsmomente abgetan und ignoriert werden. Einen Kollegen des Mordes zu bezichtigen, stellt eine enorm hohe Barriere dar. Es sind Fälle beschrieben, in denen die Täter sogar auf die überdurchschnittliche Häufung von Todesfällen angesprochen worden waren, diese jedoch scherzhaft abtaten, was das Umfeld erleichtert aufnahm.
Zudem gibt es die sogenannte Aufdeckungsbarriere, bei der trotz eindeutiger Indizien Vorgesetzte und Klinikdirektoren Verdachtsmomente als absurd, unsinnig oder denunziatorisch zurückwiesen, um einen öffentlichen Skandal abzuwenden. Das wirkt wiederum auf das Umfeld zurück, das ein Gefühl der Macht- und Hilflosigkeit erleidet, was schließlich in Resignation mündet. Es gab im Fall von Niels H. eindeutige Hinweise auf das kriminelle Verhalten, jedoch wurde er nicht angezeigt. Aus Angst vor einem Skandal wurde ihm ein Auflösungsvertrag angeboten und ein gutes Arbeitszeugnis ausgestellt, was dazu führte, dass er nahtlos eine Anschlussstelle in Delmenhorst fand, wo er mindestens weitere 62 Menschen tötete. Selbst als er in Delmenhorst auf frischer Tat ertappt wurde, wurde zunächst kein Kontakt zur Polizei aufgenommen. Man versuchte, das Problem auf nach dem Urlaub von Niels H. zu vertagen, der nach der nächsten Schicht beginnen sollte. Während dieser letzten Schicht töte er einen weiteren Menschen. Die Staatsanwaltschaft Oldenburg hat im Fall von Niels H. gegen mehrere Ärzte und Pflegedienstmitarbeiter Anklage wegen Totschlags durch Unterlassen erhoben.
Das Gesundheitssystem steht durch eine zunehmende Überalterung der Bevölkerung, immer aufwändigere technische Behandlungs- und Untersuchungsmethoden, Personalnotstand, multimorbide Patienten, knappe finanzielle Ressourcen und hohen bürokratischen Aufwand unter einem enormen Druck, den jeder, der dort arbeitet, kennt und spürt. Dieser Druck wird durch die oft hohen Erwartungen von Behandelten und Angehörigen noch verschärft. Die schwierigen Bedingungen rechtfertigen in keiner Weise Gewalt gegen Patienten, legen jedoch den Grundstein dafür. Als weitere anerkannte Faktoren gelten die komplette strukturelle Trennung von Verwaltung, Ärztestand und Pflegedienst in eigenständige Bereiche, strenge Hierarchien und konservative Strukturen, mangelhafte Kommunikation, Konflikte in der Belegschaft, fehlende Konsequenzen für fehlerhaftes Verhalten, mangelhafte personelle oder technische Ausstattung, Unzufriedenheit der Mitarbeiter, und fehlende Kontrolle der Medikamentenausgabe.
Medizinisches Personal muss für Gewalt sensibilisiert werden. Wie auch in anderen Berufsgruppen, muss auch dem Personal in Krankenhäusern Supervision angeboten werden, um in einem geschützten Raum Probleme am Arbeitsplatz und Konflikte im Team anzusprechen und belastende Situationen aufzuarbeiten. Das Versterben von Patienten sollte routinemäßig mit Dienstplänen abgeglichen werden und bei auffälligen Häufungen auch bei augenscheinlich fehlender Gewalteinwirkung eine Obduktion veranlasst werden. Die Leichenschau sollte nicht als lästige Pflicht abgetan, sondern sorgfältig durchgeführt werden. Spezielle Zusatzqualifikationen der durchführenden Ärzte helfen, auch subtile Spuren von Gewalteinwirkung zu erkennen.
Mortalitäts- und Morbiditätskonferenzen sollten regelmäßig abgehalten werden, um ähnlich gelagerte Todesfälle frühzeitig zu erkennen. Fehlermeldesysteme müssen es einfach und anonym ermöglichen, Verdachtsmomente für Fehlverhalten oder Straftaten zu melden. Laut Beine müssen Persönlichkeitsveränderungen eines Mitarbeiters in Kombination mit grober und zynischer Sprache und auffälligen Spitznamen als ernstzunehmende Frühwarnzeichen betrachtet werden. Durch Arzneimittelkommissionen soll der Arzneimittelverbrauch gemonitort und durch Stationsapotheker zusätzlich überwacht und auf Patientensicherheit hin überprüft werden.
Niedersachsen reformierte nach dem Fall von Niels H. das Krankenhausgesetz und implementierte einige der oben genannten Präventionsmaßnahmen. Bundeseinheitliche Standards zum Schutz der Patientensicherheit wären wichtig, stehen jedoch aktuell noch aus.
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