Jens lässt laute Patienten einfach mit Lorazepam ruhigstellen, Julia ist jung und schon im Burnout und Mark fixiert alles und jeden – willkommen im Pflegealltag!
Die Pflege hat es im Allgemeinen nicht leicht: Personalmangel gepaart mit einer Arbeitslast, die nicht weniger, sondern immer mehr wird. Unumstritten ist dabei auch der negative Einfluss auf die Psyche durch die Verhaltensweisen von Patienten/Bewohnern und deren Angehörigen. Was aber auf somatischen Stationen bereits Grenzen überschreitet, wird in der Psychiatrie noch auf die Spitze getrieben. In der Ausbildung wurde mir damals durch Lehrer für Pflegeberufe wie auch die als Gäste eingeladenen Psychiater früh beigebracht, dass man sich ein dickes Fell zulegen sollte. „Lassen Sie diese Dinge nicht zu sehr an sich heran! Sie werden nicht glücklich, wenn Sie alles mit nach Hause nehmen“, kann ich noch heute einen von ihnen sagen hören.
Leichter gesagt als getan. Erst, als es dann für mich als Azubi selbst in den Einsatz auf die geschlossene Gerontopsychiatrie ging, wurde mir klar, wie extrem die Situationen sind, mit denen man dort in Berührung kommt und wie wenig man darauf vorbereitet ist. Noch schlimmer aber als die Patienten, die sich dort alle in einer existentiellen Krise befunden haben, war mein Eindruck der Fachpersonen – auf pflegerischer wie auch ärztlicher Seite – die mich durch diese Zeit leiten sollten.
Nehmen wir zum Beispiel Julia (und auch hier möchte ich nochmals betonen: Alle Namen, das Geschlecht und ihr Alter sind zufällig gewählt, die Personen dahinter gibt es allerdings wirklich). Sie wurde im gleichen Jahr examiniert, in dem ich meine Ausbildung angefangen habe und hat postwendend in der Gerontopsychiatrie mit ihrer Karriere begonnen. Im Nachhinein konnte ich erfahren, dass sie extreme Prüfungsangst hatte und dadurch ihre Noten gerade so zum Bestehen des Examens gereicht haben. Man könnte meinen, dass dies auch im Pflegenotstand vor 15 Jahren keine Rolle spielen sollte. Allerdings behält sich die Ausbildungsstelle vor, nur die besten Schüler auf die beliebtesten Stationen zu lassen – für den Rest bleiben nur die unbeliebten, wie unter anderem die Gerontopsychiatrie.
Von hier aus hat man aber die Chance, später in eine der anderen Stationen zu wechseln, deswegen findet man dort auch recht viel junges Personal. Julia ist nun seit einem halben Jahr auf dieser Station, doch so freundlich wie sie mich empfängt, so wenig Freundlichkeit hat sie für ihre Patienten übrig: Belehrungen gegenüber Demenzerkrankten, ein fordernder Ton, selbst vor richtigem Anschreien macht sie nicht Halt. Ich war entsetzt, musste allerdings nach einigen Tagen schnell feststellen, dass Julia in dieser Umgebung mit Abstand die freundlichste Person war.
Jens ist Assistenzarzt auf der geschlossenen Gerontopsychiatrie und hat sein Büro direkt neben einem Patientenzimmer. Als dieser Patient aber anfängt, zu schreien, da er fixiert im Bett liegt, kommt Jens aus seinem Büro ins Stationszimmer gestürmt und wütet gegen das dort sitzende Personal: „Ich habe euch nicht Bedarfsmedikation zur Beruhigung aufgeschrieben, damit wir einen Grund haben, die im Medikamentenschrank lagern zu können. Gebt ihm Dipi, gebt ihm Tavor®, zur Not schreibe ich euch noch mehr auf, ABER MACHT IHN LEISE! Ich kann so nicht arbeiten!“ Danach stampft er wieder in sein Büro und knallt die Tür hinter sich zu. Ich sitze neben der Schichtleitung, total perplex wegen dem, was da gerade passiert ist. Ich kann sehen, wie sie im Stress mit der Fassung kämpft, macht sich aber umgehend an die Medikamente und verabreicht sie dem Patienten.
Oder Mark zum Beispiel, weit in seinen Fünfzigern, arbeitet schon seit bald 20 Jahren in der Psychiatrie – die längste Zeit davon auf der Gerontopsychiatrie. Er war regelrecht gefürchtet von den Patienten, zumindest bei denen, die sich an ihn erinnern können. Vor allem schlecht aber für die Personen, die es nicht mehr konnten, denn er fackelte selten lang: Hat sich ein Patient nicht an die Regeln gehalten, wurde er wahlweise an einen Pflegestuhl oder im Bett fixiert.
Man konnte beim Betreten der Station zum Start in den Dienst bereits erkennen, wenn Mark in der Schicht vor einem war: Kaum jemand lief über den Stationsflur, der sonst rege besucht war, denn der Großteil war entweder im Stuhl oder im Bett fixiert. Ich kann schon einige von euch denken hören: „Was ein Arsch!“, allerdings ist Mark durch seine vielen Jahre mit Extremsituationen in der Psychiatrie abgestumpft und hat sich ein, wie damals von den Lehrern geforderte, dickes Fell zugelegt – ein Schutzmechanismus. Dazu gesellen sich (wie überall anders auch) Stress, Zeit- und Personalmangel und daraus folgend eine Menge Überstunden, die nicht in absehbarer Zeit abgefeiert werden können. In den meisten Fällen werden sie einfach nur ausgezahlt. Ich konnte diesen lockeren Umgang mit den freiheitsentziehenden Maßnahmen und diese Verrohung anfangs nur schwer verstehen, heute ist mir klar: Es handelt sich um Coolout.
Coolout beschreibt eine Verhaltensänderung, bei der es zur Diskrepanz zwischen normativem Anspruch (Patientenorientierung/Empathie/Mitgefühl) und Funktionalität (Sicherung der Arbeitsabläufe/Verhinderung der eigenen Erkrankung) kommt. Um also den Ansprüchen weiter gerecht zu werden, die durch die Gesetzgebung von Pflegefachpersonen verlangt werden (u. a. pflegewissenschaftliches Arbeiten, individuelle Bedürfnisse berücksichtigen, umfassende Beratungen anbieten, Selbstbestimmung berücksichtigen), werden Pflegepersonen kalt. Eine Definition nach Andreas Gruschka beschreibt diesen Vorgang so: „Indem wir uns kalt machen, gelingt es uns, die Verletzung der Norm hinzunehmen. Mit der Kälte können wir mehr oder weniger widerstandslos hinnehmen, dass die Welt nicht so ist, wie sie zu sein beansprucht bzw. wie sie sein sollte.“
Verstärkt wird dieses Verhalten zunehmend durch Mängel in der Pflege. Steigende Fälle von herausfordernden Patienten durch den demographischen Wandel bei gleichzeitig sinkender Personaldichte, Aufgaben wie das Führen von Gesprächen oder die Begleitung Sterbender – für die wenig Zeit bleibt und die oft als Erstes wegfallen – sowie die Zunahme von Unterstützungen bei der Nahrungsaufnahme oder Mobilisierung/Lagerung von bewegungseingeschränkten Menschen. Jeder Pflegefachperson ist die Wichtigkeit dieser Tätigkeiten bekannt. Allerdings entstehen durch die vorgegebenen Strukturen (Gesetzgebung, wissenschaftliche Standards, wirtschaftliche Zwänge) Drucksituationen, in denen die Pflegepersonen den hohen normativen Anspruch der Patientenorientierung umsetzen sollen, alles muss erledigt werden. Daraus entsteht als Abwehrhaltung die Kälte: Das Akzeptieren dieser Strukturen und das widerstandslose Hinnehmen dieser Zustände.
Das Wissen zum Thema Coolout in der Pflege ist nicht neu: Bereits seit 20 Jahren forscht Karin Kersting, Professorin für Pflegewissenschaft, hierzu. Dabei fällt auf, dass das Phänomen Coolout besonders in Pflege auftritt, weil hier Anspruch und Realität extrem weit entfernt liegen, aber die Kombination von beidem gefordert wird. Dieser Schutzmechanismus sorgt am Ende auch dafür, dass Pflegepersonen über Fehler und Verletzungen von Normen hinwegsehen, um sich selbst zu schützen und weiter zu funktionieren – ein absolutes No-Go.
Für mich als Auszubildender bedeutete das: Begleitung während des Einsatzes Fehlanzeige – „Wasch die Leute so, wie du dich waschen würdest!“ war der Anspruch. Mit Prophylaxen, Krankenbeobachtung, etc. musste ich mir selbst aushelfen. Anleitung habe ich genau eine bekommen und das erst nach mehrfachem Drängen. Dazu ist die Stationsleitung extra aus ihrem Frei für zwei Stunden auf Station gekommen, um mit mir Fixierungen zu besprechen. Dazu wurde ich selbst, als Teil der Anleitung, an ein Bett fixiert, um zu erfahren, wie schwer es ist, Essen angereicht zu bekommen, Hilfe zu rufen und was für ein schlechtes Gefühl es ist, an einem Ort zu sein, an dem man nicht sein möchte und von dem man nicht wegkommt. Im Nachhinein hätte ich mir diese Anleitung für Mark gewünscht, in der Hoffnung, es hätte etwas in ihm verändert.
Julia hatte sich kurz nach meinem Antritt in der Gerontopsychiatrie krankgemeldet. Ich habe sie in meinem dreimonatigen Einsatz nicht mehr gesehen. Sie wohnte im gleichen Personalwohnheim wie ich, daher bin ich ihr ab und zu über den Weg gelaufen: Burnout. Sie ging mir gegenüber relativ offen damit um, da wir etwa im gleichen Alter waren. Ihre dauerhafte Müdigkeit, die Antriebslosigkeit. Sie würde mehrfach am Tag weinen, sobald sie an die Arbeit denkt. Anfangs war sie nahezu immer da, jetzt fehlt sie dauerhaft. Der Krankenstand ist in der Psychiatrie im Allgemeinen sehr hoch, vor allem für mich als damaliger Auszubildender war dies deutlich zu spüren, da ich als vollwertige Arbeitskraft gewertet wurde.
Coolout ist am Ende ein Zustand, der sich vermeiden lässt, wenn die Arbeitsbedingungen gut sind und das Personal ausreichend vorhanden ist. Dazu gehören aber auch Gesetze, die die wirtschaftlichen Zwänge, denen Gesundheits- und Pflegebetriebe unterstellt sind, nicht auf dem Rücken der Pflegepersonen austragen lassen. Alleine die Tatsache, dass man in Deutschland Gewinne mit der Gesundheit von Menschen erzielen kann, lenkt den Fokus weg vom humanitären Grundsatz der Medizin und Pflege und hin zum Wirtschaftlichen. Und da sollten wir alle einer Meinung sein: Das ist nicht gut.
Kennt ihr Coolout? Und wie geht ihr mit Stresssituationen um?
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