Der älteste praktizierende Arzt Deutschlands ist 98 Jahre alt. Warum das nur die Spitze des Eisbergs ist, erfahrt ihr hier.
Als Deutschlands ältester praktizierender Arzt das Licht der Welt erblickte, tat man sich hierzulande mit der ersten deutschen Demokratie schwer, unterschied noch in Kreis- und Stadtärzte und die Ärzteschaft kämpfte für eine einheitliche Berufsorganisation durch eine Reichsärzteordnung.
Dass die Mediziner damals grundlegende strukturelle Herausforderungen zu meistern hatten, soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch sie bereits mit Personalmangel kämpften. Kriegs- und krisenbedingt kam in der Zwischenkriegszeit 1 Kassenarzt auf 1.000 Einwohner. Heute steht man bei etwa 4,5 zu 1.000. Dass eure Vorgänger dabei größtenteils auf sich allein gestellt waren – das Recht zur Eröffnung von Gemeinschaftspraxen für Ärzte gleichen Faches wurde erst 1926 zulässig – mochte eine weitere Erschwernis gewesen sein.
Sicherlich können die Zahlen nicht 1 zu 1 übertragen und verglichen werden, ist die Gesundheitsversorgung in großen Teilen überholt. Auch waren die Perspektiven andere – ging man doch nach überstandener Hyperinflation optimistisch in eine wirtschaftliche Zukunft und sah steigenden Geburtenraten entgegen.
Während die Ärzteschaft sich damals also aus sich selbst heraus verjüngte, sieht man sich heute einem stetig alternden Berufsstand gegenüber. So stieg das Durchschnittsalter praktizierender Ärzte in Deutschland zwischen 2001 und 2021 von 49,8 Jahren auf 54,6 Jahre, wie die Zahlen aus dem Bundesarztregister für die Jahre 2001, 2011 und 2021 belegen. Dass es sich weniger um eine Momentaufnahme denn um einen besorgniserregenden Trend handelt, bestätigt Zi-Vorstandsvorsitzender Dr. Dominik von Stillfried: „Wir befinden uns auch in der ambulanten ärztlichen Versorgung vor einer Zeitenwende. Aus dem vermeintlichen Überangebot ist eine drohende Unterversorgung geworden. Heute reden wir über Probleme bei der Terminvergabe. Die tragende Säule der medizinischen Versorgung in Deutschland wird personell deutlich schwächer werden.“
Was man durch den steigenden Altersschnitt erahnen kann, macht ein detaillierterer Blick auf die Alterspyramide noch deutlicher: Die Versorgungsleistung wird zum großen Teil durch die Ärztegeneration der Babyboomer getragen. Genauer gesagt: 69,4 % aller in Deutschland praktizierenden Vertragsärzten sind älter als 50 Jahre. Die nahende Gefahr ist klar: Die zu erwartende Rentenwelle könnte eine klaffende Lücke in die haus- und fachärztliche Versorgung reißen.
Die Tatsache, dass behandelnde Ärzte auch immer älter werden, kann das zu erwartende personelle Defizit keineswegs auffangen. So steigt die Zahl der praktizierenden Ärzte über 80 Jahre – und zwar um das 12-Fache zwischen 2001 (51) und 2021 (620). Jedoch ist dies ein verschwindend geringer Prozentsatz gegenüber den insgesamt 143.101 tätigen Vertragsärzten. So liest sich der aktuelle Rekord des ältesten praktizierenden Arztes in Deutschland mit entsprechend Wehmut, ist sein Engagement doch letztlich nicht mehr als der berühmte Tropfen auf den heißen Stein. Er ist 98 Jahre alt. Dass der Rekord im Jahr 2001 noch bei 88 Jahren lag, zeichnet das traurige Bild nur weiter.
Altersverteilung von niedergelassenen Haus- und Fachärzten in den Fokusjahren 2001, 2011 und 2021 Credit: Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung (Zi)
Wir steuern also auf die Unterversorgung zu. „Seit Ende der 1970er Jahre schien es in der Gesundheitspolitik notwendig, den Zugang zur Niederlassung zu bremsen und auch die Tätigkeit von Vertragsärztinnen und -ärzten als Teil der Ausgabenbegrenzung möglichst weitgehend durch Regulierung einzuschränken. Vor der Verabschiedung des Gesundheitsstrukturgesetzes 1993, das eine restriktive Bedarfsplanung vorsah, beantragten viele Medizinerinnen und Mediziner noch die Zulassung für eine Niederlassung. Jetzt kommt diese Generation der ‚Baby-Boomer‘ in das Ruhestandsalter. Damit wird die Zahl der in der Versorgung verfügbaren Ärztinnen und Ärzte laufend abnehmen und die Zahl offener Sitze massiv ansteigen. Gleichzeitig werden jüngere Medizinerinnen und Mediziner der Patientenversorgung nicht mehr im gleichen zeitlichen Umfang zur Verfügung stehen“, beschreibt Stillfried den Prozess und nimmt dabei dem erfreulichen Wert der gestiegenen Gesamtzahl an Ärzten ihren beruhigenden Charakter.
So stieg in den vergangenen 20 Jahren zwar die Zahl der Vertragsärzte von 117.650 auf 143.101. Gleichzeitig sank jedoch die Versorgungsleistung insgesamt. Ursache für das zunächst kontrafaktische klingende Phänomen: Arbeit in Anstellungen und Teilzeitmodelle. In 2022 arbeiteten 26 % aller angestellter Vertragsärzte und Psychotherapeuten in Anstellung (gegenüber 14 % in 2013). Der Aufstieg der Teilzeitarbeit ist noch rasanter: Es praktizieren laut Bundesarztregister 33 % in dieser Arbeitsform – gegenüber 12 % in 2013. Selbst wenn eine freie Stelle also nachbesetzt wird, bedeutet dies nicht zwangsläufig, dass die gleiche Versorgungsleistung wie zuvor zur Verfügung steht.
Wo liege sie also, die Lösung, um dem Personalmangel und der Unterversorgung Herr zu werden? Jedenfalls nicht in den Reihen der eigenen Medizinstudenten, wenn man den Zahlen Glauben schenkt. „Eine zunehmende Anzahl von Absolventinnen und Absolventen des Medizinstudiums und der Facharztweiterbildung ist bis Mitte der 2030er Jahre nicht in ausreichendem Umfang zu erwarten. Das Zusammenspiel hoher Renteneintrittszahlen, sinkender Versorgungsleistung je Ärztin bzw. Arzt und einer eher steigenden zukünftigen Inanspruchnahme der deutlich älter werdenden Patientinnen und Patienten führt zu großen Herausforderungen, die medizinische Versorgung in Zukunft abzusichern. Das Engagement vieler älterer Ärztinnen und Ärzte weit über das Ruhestandsalter hinaus kann dies nicht ausgleichen“, so Stillfried.
Dass die Zahl der praktizierenden jungen Ärzte bis unter 40 Jahre (10.102 in 2021) im Vergleich zu 2001 (12.931) zwar gesunken ist, jedoch gegenüber dem Zwischendatum 2011 (6.668) wieder ansteigt, lässt einen ebenfalls etwas ratlos zurück. Wer noch weitere Ernüchterung braucht: Derweil praktizieren in Deutschland zudem lediglich 2 Vertragsärzte, die unter 30 Jahre alt sind.
Lösungen für die maue Personallage können letztlich nur aus der Politik kommen. Es müsse darum gehen, Rahmenbedingungen zu schaffen, die geeignet sind, um Ärzte zu motivieren der Patientenversorgung mehr Lebenszeit zu widmen. Für den Vorstandsvorsitzenden des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung bedeutet das: mehr Gestaltungsspielräume, konsequente Entlastung von Verwaltungsaufgaben und eine höhere Attraktivität der Niederlassung.
Bildquelle: Donald Teel, Unsplash