Reiten, Trampolinspringen oder Fußball – das ist auch für Jugendliche mit Skoliose möglich. Was sich in Sachen Therapie außerdem geändert hat, erfahrt ihr hier.
Bei einer Skoliose ist die Wirbelsäule in drei Ebenen verkrümmt: zur Seite hin, nach vorne oder hinten – bei der Brustwirbelsäule etwa als Rundrücken, bei der Lendenwirbelsäule als Hohlrücken – oder in einer Rotation. Tritt sie im Jugendalter auf, spricht man von einer adoleszenten idiopathischen Skoliose (AIS). Diese betrifft 0,47 bis 5,2 Prozent der Jugendlichen zwischen 10 und 18 Jahren. Als idiopathisch wird sie bezeichnet, weil bisher keine klare Ursache bekannt ist. Mädchen sind häufiger betroffen als Jungen, insbesondere bei stärker ausgeprägter Skoliose. Allerdings sind leichte bis moderate Krümmungen der Wirbelsäule deutlich häufiger als stark ausgeprägte Skoliosen, bei denen eine operative Therapie nötig ist.
Nun hat ein Autorenteam aus 13 Fachgesellschaften eine neue S2k-Leitlinie für die Diagnostik und Therapie der adoleszenten idiopathischen Skoliose veröffentlicht. Sie entstand unter Federführung der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie (DGOU), der Deutschen Wirbelsäulengesellschaft (DWG) und der Vereinigung für Kinderorthopädie (VKO) in Zusammenarbeit mit zehn weiteren Fachgesellschaften.
„Die letzte Leitlinie ist seit 2012 nicht mehr gültig und basierte auf 20 Jahre alten Daten“, berichtet Dr. Bernd Wiedenhöfer. Er ist Leitlinien-Koordinator der DGOU und Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie am Zentrum für Wirbelsäulenchirurgie der ATOS Klinik Heidelberg. „Inzwischen hat sich die Therapie aber weiterentwickelt. Daher war es wichtig, eine neue Leitlinie zu entwickeln, die den aktuellen Stand der Wissenschaft, aber auch die klinische Erfahrung wiedergibt. So werden zum Beispiel neue Methoden mit guter wissenschaftlicher Evidenz berücksichtigt, die eine ‚sollte‘-Empfehlung erhalten haben.“
Die Leitlinie geht auf die Diagnostik, den natürlichen Verlauf, die konservative und operative Therapie der AIS sowie die verschiedenen Operations-Verfahren und die Operations-Nachsorge ein. Im Kapitel „Skoliose im Alltag“ werden ausführliche Empfehlungen zum Umgang mit der Erkrankung im täglichen Leben gegeben – etwa zu Themen wie Sport und körperliche Belastung, Berufswahl, Sexualität, Schwangerschaft und Geburt sowie Bemessung des Grades der Behinderung.
Im klinischen Alltag sei das in der Leitlinie empfohlene Vorgehen bereits gut etabliert, berichtet Wiedenhöfer. „Skoliose-Therapie findet überwiegend in spezialisierten Praxen, klinischen Zentren und Reha-Zentren statt, in denen bereits eine große Expertise vorhanden ist“, so der Facharzt. Die Leitlinie könne jedoch dazu beitragen, klare Handlungsempfehlungen zu geben und so die Diagnostik und Therapie der AIS zu vereinheitlichen und zu verbessern. Weiterhin mache sie deutlich, für welche Verfahren es bisher keine ausreichende wissenschaftliche Evidenz gebe – beispielsweise einige Verfahren, die in sozialen Netzwerken viel Widerhall fänden.
Zunächst muss eine Skoliose eindeutig diagnostiziert werden. „Besteht der klinische Verdacht einer Skoliose, etwa weil der Oberkörper sichtbar schief steht, wird die Durchführung einer Röntgenaufnahme im Stand für die ganze Wirbelsäule empfohlen“, sagt Prof. Tobias Schulte, Leitlinien-Koordinator der DWG und Direktor der Orthopädischen Universitätsklinik der Ruhr-Universität Bochum. Auch ab einem Rippenbuckel oder Lendenwulst von fünf Grad sollte ein Röntgenbild angefertigt werden. Dabei wird der so genannte Cobb-Winkel bestimmt: der Grad der Verkrümmung der Wirbelsäule. Wichtig ist auch, auf eine Längendifferenz der Beine zu achten. Da bei AIS-Patienten Rückenschmerzen vorkommen können, sollten auch diese bei der Diagnostik miterfasst werden.
Im Anschluss muss eine Skoliose im Jugendalter regelmäßig fachärztlich kontrolliert werden. Die Kontrolluntersuchungen sollten je nach Krümmung alle sechs bis zwölf Monate und bis zum Abschluss des Wachstums durchgeführt werden. Bei einer leichten Verkrümmung – weniger als 25 Grad im Bereich der Brustwirbelsäule oder weniger als 20 Grad bei der übrigen Wirbelsäule – ist keine Behandlung erforderlich. Allerdings sollten regelmäßige Kontrollen stattfinden, bis das Längenwachstum abgeschlossen ist.
Bei stärkeren Krümmungen zwischen 20 bis 25 und 40 Grad sollte eine konservative Therapie mit einem Korsett erfolgen. Ihre Wirksamkeit ist inzwischen durch Studien gut belegt. Beträgt der Cobb-Winkel bei der Erstdiagnose über 50 Grad bei der Brustwirbelsäule oder 40 Grad bei der Lendenwirbelsäule oder bringt die konservative Therapie keinen Erfolg, wird eine Operation empfohlen. Bei einem Cobb-Winkel der Brustwirbelsäule zwischen 40 und 50 Grad kann laut Leitlinie nach individueller Beratung eine Operation erwogen werden.
Sport und Bewegung werden in der Leitlinie ausdrücklich empfohlen. „Früher wurden die Betroffenen vom Sport befreit oder sollten zum Beispiel nicht Reiten oder Trampolin springen. Dadurch hat man sie ein Stück weit zu Kranken gemacht“, betont Dr. Kiril Mladenov. Er ist Leitlinien-Koordinator der VKO und Geschäftsführender Oberarzt der Kinderorthopädie am Altonaer Kinderkrankenhaus in Hamburg. „Davon ist man inzwischen weg. Die Botschaft lautet jetzt ganz klar: Jugendliche mit AIS sollten sich regelmäßig bewegen und Sport machen. Und man sollte ihnen auch keine Sportarten verbieten. Denn ihre Wirbelsäule ist stabil und belastbar und die Skoliose bedeutet meist keine Einschränkung in der Lebensführung.“ So würden die meisten Betroffenen ein ganz normales, aktives Leben führen.
Auch eine regelmäßige Physiotherapie, insbesondere rumpfstabilisierende Übungen, kann für viele Betroffene hilfreich sein – auch für Patienten mit Korsett-Therapie. Laut Leitlinie sollte sie bei Patienten mit einem Cobb-Winkel ab 20 bis 25 Grad und kann bei Patienten mit geringerer Krümmung durchgeführt werden. Allerdings sollten die Betroffenen darüber informiert werden, dass eine Physiotherapie allein nicht zu einer dauerhaften Besserung des Cobb-Winkels führt.
Bei der Diagnostik sei es wichtig, die Strahlenbelastung so gering wie möglich zu halten. Daher sollten wenn möglich neue Verfahren mit geringer Strahlenbelastung wie strahlenreduzierte Bildgebung mit dem EOS-System und MRT verwendet werden. Ein MRT sollte vor einer Operation erfolgen, ansonsten nur, wenn Schmerzen oder unklare neurologische Symptome auftreten. Allerdings kann die Krümmung mit Röntgenaufnahmen exakter bestimmt werden. Daher sollten diese bei einer Zunahme der Krümmung sowie nach einer Operation und zur Verlaufskontrolle nach der OP durchgeführt werden.
Das Skelettalter sollte bestimmt werden, wenn eine relevante klinische Entscheidung davon abhängt. Dies kann die Indikation für ein Korsett, die Dauer oder das Beenden einer Korsett-Therapie sowie der Zeitpunkt einer Operation und die OP-Technik sein. So sind manche Maßnahmen nur sinnvoll, solange das Skelettwachstum noch nicht abgeschlossen ist. „Am gängigsten zur Skelettalter-Bestimmung ist die Beurteilung der Verknöcherung des Beckenkamms, wobei zudem das Längenwachstum des Jugendlichen berücksichtigt wird“, erläutert Wiedenhöfer.
Ein Korsett sollte mindestens 40 Prozent, besser jedoch 50 Prozent der Kurve korrigieren. Beispielsweise sollte die Krümmung bei einem anfänglichen Cobb-Winkel von 25 Grad am Ende nur noch 12 bis 13 Grad betragen. Da der Erfolg der Therapie mit der Tragedauer korreliert, sollte das Korsett möglichst ständig – mindestens 18 bis 23 Stunden am Tag – getragen werden. Die Zeit für Körperhygiene und Sport zählt dabei mit zur Tragezeit, auch wenn in dieser Zeit kein Korsett getragen wird.
Die Korsett-Behandlung sollte erst mit Abschluss des Längenwachstums beendet werden. „Wichtig ist zu wissen, dass nach Abschluss der Therapie ein Korrekturverlust eintritt“, erläutert Wiedenhöfer. „Solange dieser den Winkel, bei dem das erste Korsett verordnet wurde, nicht übersteigt, gilt die Therapie als erfolgreich. Andernfalls sollte eine Operation erfolgen.“
Wichtig ist laut Leitlinie auch, psychosoziale und emotionale Faktoren zu thematisieren, die mit dem Tragen eines Korsetts verbunden sind. „Entscheidend für den Erfolg einer Korsett-Therapie ist eine gute Compliance“, betont der Facharzt. „Obwohl diese in der Pubertät nachlassen kann, ist die Compliance der jugendlichen Patienten unserer Erfahrung nach recht hoch.“
Reicht die Korrektur durch das Korsett nicht aus oder ist die Krümmung strukturell – also so verfestigt, dass man sie durch ein Korsett nicht korrigieren kann – wird eine Operation empfohlen. Goldstandard ist dabei eine korrigierende Versteifung einzelner Segmente der Wirbelsäule (Korrekturspondylodese), so die Leitlinie. „Solche operativen Verfahren sind heute in der Lage, die Ausgangskurve um 70 Prozent und auch die dreidimensionale Verformung zu korrigieren“, berichtet Wiedenhöfer. „Dabei gilt immer die Regel ‚Um jedes Bewegungssegment kämpfen‘. Es sollten also nur so viele Segmente versteift werden wie unbedingt notwendig.“
Vor jeder Operation sollte eine Wirbelsäulen-Ganzaufnahme gemacht und die Flexibilität bzw. Festigkeit der Wirbelsäulen-Verkrümmung geprüft werden. „Durch entsprechende Voruntersuchungen kann man ziemlich genau bestimmen, ob und an welcher Stelle eine Versteifung notwendig ist“, erläutert der Experte. Eine neue Empfehlung der Leitlinie lautet, bei Operationen standardmäßig ein intraoperatives Neuromonitoring einzusetzen. Dabei werden motorische und somatosensible Nervenbahnen in Echtzeit überwacht, um so einen neurologischen Schaden bei der Operation zu vermeiden.
Nach einer Operation sollten die Patienten etwa drei Monate auf Sport oder Tätigkeiten, bei denen die Wirbelsäule stark belastet, gekrümmt oder erschüttert wird, verzichten. Nach drei bis sechs Monaten können sie wieder wenig belastende Sportarten wie Schwimmen, Radfahren oder Joggen ausüben, nach sechs bis zwölf Monaten auch wieder Kontakt- und Ballsportarten.
Wie stark körperliche oder psychische Beeinträchtigungen durch die Skoliose sind, sei nicht immer einfach zu bestimmen, so Wiedenhöfer. „Teilweise kann es schon beim einem Cobb-Winkel von 20 bis 25 Grad der Brustwirbelsäule zu Beeinträchtigungen der Lungenfunktion kommen – häufiger tritt diese ab einem Cobb-Winkel von über 70 bis 75 Grad auf.“ Auch Schmerzen können unabhängig vom Ausprägungsgrad der Skoliose auftreten. Bei klinischen Hinweisen auf eine Einschränkung der Lungenfunktion kann laut Leitlinie eine Lungenfunktionsdiagnostik erfolgen.
Weiterhin können sichtbare körperliche Veränderungen – etwa eine schiefe oder gekrümmte Haltung – auch das Selbstbild beeinträchtigen und zu psychosozialen Belastungen führen. So haben Studien gezeigt, dass Jugendliche mit AIS ein erhöhtes Risiko für affektive Störungen und häufiger Sorgen über die eigene körperliche Entwicklung und Probleme im Kontakt mit Gleichaltrigen haben als andere Jugendliche. Treten solche Belastungen auf, sollten die Patienten laut Leitlinie frühzeitig psychosoziale Unterstützung erhalten.
Die Ursachen der AIS seien bisher nicht final bekannt, stellt die Leitlinie fest. „Studien deuten darauf hin, dass genetische Faktoren eine Rolle spielen. Ein klarer Vererbungsweg ist jedoch bisher nicht nachgewiesen“, berichtet Wiedenhöfer. „Weiterhin sind bei AIS-Patienten Auffälligkeiten beschrieben worden, die auf hormonelle Veränderungen hindeuten. Dazu gehören ein niedrigerer Östradiol-Spiegel und eine später eintretende Menarche bei Mädchen sowie teilweise eine Minderung der Knochendichte, die mit Störungen im Calcium- und Vitamin-D-Stoffwechsel zusammenhängen könnte.“ Ein eindeutiger Zusammenhang mit den Symptomen und dem Ausmaß der Skoliose konnte aber bisher nicht belegt werden.
Zusammenfassend sei laut Autoren eine Leitlinie entstanden, die dem interdisziplinären Vorgehen bei Diagnostik und Behandlung der AIS Rechnung trägt, an dem Orthopäden, Physiotherapeuten und Orthopädietechniker sind. „Allerdings war die Entwicklung der Leitlinie zu dieser komplexen und seltenen Erkrankung auch aufwändig und hat viel Zeit in Anspruch genommen“, so Wiedenhöfer.
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