Starker Harndrang und Inkontinenz: Hilft ein Toilettentraining bei der Reizblase nicht, verschreiben Ärzte gerne Medikamente. Doch Vorsicht, es gibt Fallstricke.
Wenn jemand plötzlich oder ständig das Gefühl hat, dringend auf die Toilette zu müssen oder wenn unfreiwillig Harn abgeht, kann das sehr unangenehm sein. Fachleute sprechen in diesem Fall von einer Reizblase oder überaktiven Blase. „Wenn jemand mehr als acht Mal am Tag dringend auf die Toilette gehen muss, bezeichnet man das als überaktive Blase“, erläutert Prof. Ursula Peschers. Sie ist Fachärztin für Gynäkologie und Direktorin des Beckenbodenzentrums am Isarklinikum in München. „Normal bei jungen Erwachsenen ist, dass sie etwa fünf Mal am Tag auf die Toilette gehen – und nachts gar nicht oder höchstens einmal.“ Bei älteren Erwachsenen werden die Toilettengänge etwas häufiger, weil die Blasenkapazität mit zunehmendem Alter nachlässt.
„Insgesamt sind 20 bis 30 Prozent der Bevölkerung von einer Reizblase betroffen. Bei älteren Menschen sind es um die 50 Prozent“, berichtet Peschers. „In jüngeren Jahren sind es mehr Frauen als Männer, später sind beide Geschlechter gleich häufig betroffen.“ Tatsächlich könnten es noch deutlich mehr Menschen sein. Denn viele Betroffene gehen aus Scham nicht zum Arzt und viele ältere Menschen glauben, dass häufige Toilettengänge im Alter ganz normal sind.
Man unterscheidet zwei Formen der überaktiven Blase. „Wenn jemand ständig einen dringenden Harndrang verspürt, obwohl die Blase nur wenig gefüllt ist, bezeichnet man das als ‚trockene Reizblase‘. Die Betroffenen gehen häufig auf die Toilette, entleeren aber nur kleine Mengen Urin“, sagt Peschers. „Als Dranginkontinenz, oder auch ‚nasse Reizblase‘, bezeichnet man es hingegen, wenn jemand einen starken Harndrang verspürt und bereits beim Gang auf die Toilette Urin verliert.“ Der häufige Drang, auf die Toilette zu gehen, tritt auch nachts auf und kann den Schlaf und dadurch auch die Leistungsfähigkeit und Lebensqualität deutlich beeinträchtigen.
Hintergrund der Dranginkontinenz ist, dass man zwar den Schließmuskel willkürlich an- und entspannen kann, nicht aber die Muskulatur in der Blasenwand (Detrusormuskel). „Dieser ist normalerweise entspannt und spannt sich nur beim Wasserlassen an“, erläutert Peschers. „Bei einer Dranginkontinenz geschieht dies aber schon, bevor der Betroffene die Toilette erreicht. Dadurch kommt zu einem hohen Druck in der Blase, dem man durch willkürliches Anspannen des Schließmuskels kaum noch entgegenwirken kann. Die Folge ist ein ungewollter Harnabgang.“
Zur Behandlung einer Reizblase werden häufig Medikamente wie Anticholinergika verschrieben. „Dadurch entspannt sich die Blasenmuskulatur, so dass sich die Blasenkapazität erhöht und der Harndrang vermindert“, sagt Peschers. Ein aktuelles Cochrane-Review hat jetzt untersucht, wie gut diese Medikamente die Symptome einer Reizblase im Vergleich zu Placebo lindern und welche Nebenwirkungen auftreten können. Dazu verwendeten die Forscher Daten aus dem Cochrane Incontinence Specialised Register bis zum 14. Januar 2020. In die Analyse wurden randomisierte oder quasi-randomisierte Studien mit Erwachsenen mit überaktiver Blase eingeschlossen.
Insgesamt konnten 104 Studien in die Auswertung einbezogen werden, wobei 71 Studien seit dem letzten Erscheinen des Cochrane-Review im Jahr 2006 neu oder aktualisiert worden waren. Die Studien umfassten 47.106 Teilnehmer, von denen 29.682 ein Anticholinergikum und 17.424 ein Placebo erhalten hatten. Eine Studie bezog nur Männer, neun Studien nur Frauen, die übrigen Studien Männer und Frauen ein. Die durchschnittliche Dauer der Studien umfasste 12 Wochen. Dabei weisen die Autoren auch darauf hin, dass 70 Studien von Firmen gefördert wurden, die Medikamente herstellen und verkaufen.
Bei der Auswertung zeigte sich, dass Anticholinergika stärker als Placebo zur Verbesserung oder Heilung der Symptomatik beitragen und die Lebensqualität leicht verbessern. Im Vergleich zu Placebo können sie die Zahl der Episoden mit starkem Harndrang und die Zahl der Toilettengänge in einem Zeitraum von 24 Stunden verringern. Andererseits kam es bei Einnahme von Anticholinergika häufiger als unter Placebo zu Mundtrockenheit und das Risiko für einen Harnverhalt war erhöht. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass anticholinergische Medikamente zu bedeutsamen, aber mäßigen Verbesserungen der Symptomatik führen. Unklar sei bisher, ob der Nutzen von Anticholinergika über längere Behandlungszeiträume oder über das Ende der Einnahme hinaus anhalte.
Wie es genau zu einer Reizblase kommt, ist bisher nicht bekannt. „Wichtig ist, zunächst körperliche Erkrankungen auszuschließen, die zu diesen Beschwerden führen können, etwa eine Blasenentzündung oder Restharn, der zu ständigem Harndrang führen kann“, betont Peschers. „Liegen solche Störungen vor, sollten sie entsprechend behandelt werden.“ Meist lässt sich jedoch keine organische Ursache feststellen.
Es gibt aber Faktoren, die das Auftreten einer Reizblase begünstigen können. Dazu gehören:
Bei der Diagnostik führt der Arzt zunächst ein ausführliches Gespräch. Weiterhin werden verschiedene Untersuchungen durchgeführt, um körperliche Ursachen wie etwa Tumoren auszuschließen. Dazu gehören eine Untersuchung des Urins, eine sorgfältige gynäkologische und urologische Untersuchung und gegebenenfalls eine Ultraschall-Untersuchung oder Röntgenaufnahme von Blase und Harnwegen, eine Untersuchung der Blasenfunktion (Urodynamik) und eine Blasenspiegelung.
„Im Anschluss sollten die Betroffenen über zwei bis drei Tage ein Miktionstagebuch führen“, sagt Peschers. „Darin halten sie fest, wie oft und wie viel sie trinken, wie häufig der Drang zum Wasserlassen auftritt, wie oft sie auf die Toilette gehen und wie groß jeweils die Urinmenge ist.“ Daran sollte sich ein so genanntes Blasen- oder Toilettentraining anschließen. Es handelt sich um eine Art Verhaltenstherapie, die von speziell ausgebildeten Physiotherapeuten angeleitet wird. „Ziel ist, die Abstände zwischen den Toilettengängen zu verlängern, zum Beispiel von einer auf zwei Stunden“, erläutert Peschers. „Außerdem können die Patienten Strategien lernen, um einem starken Harndrang entgegenzuwirken. Dazu gehört etwa, den Schließmuskel bzw. den Beckenboden aktiv anzuspannen, die Beine zu überkreuzen, sich zu bücken oder von Hundert in Siebener-Schritten rückwärts zu zählen. All das kann dazu beitragen, dass sich der angespannte Blasenmuskel wieder entspannt und so dem starken Harndrang entgegenwirken.“
Beim Blasentraining lernen die Betroffenen auch, besser mit Stress umzugehen. Bei starken psychischen Belastungen kann in seltenen Fällen eine Psychotherapie sinnvoll sein. „Allerdings ist eine Reizblase meist nicht psychisch bedingt und eine Psychotherapie daher nicht die Behandlung der ersten Wahl“, so Peschers.
Manchen Patienten hilft auch ein Beckenbodentraining. „An sich hat der Harndrang zwar wenig mit der Beckenbodenmuskulatur zu tun“, erläutert die Gynäkologin. „Aber ein gezieltes Anspannen des Schließmuskels signalisiert dem Gehirn, dass man gerade nicht auf die Toilette gehen kann. Das führt dann dazu, dass ein angespannter Blasenmuskel sich wieder entspannt.“ Bei anderen Betroffenen ist die Beckenmuskulatur stark verspannt, so dass es für sie hilfreich ist, sie durch Entspannungsübungen oder warme Sitzbäder zu entspannen.
Weiterhin gibt es verschiedene Behandlungsansätze zur Linderung der Beschwerden, die sich nach der jeweiligen Ursache richten. „Bei Frauen in den Wechseljahren kann der Mangel an Östrogen zu einer trockenen Scheide führen. Diese stellt einen Reiz dar, der eine Reizblase begünstigen kann“, sagt Peschers. „In diesem Fall können lokale Östrogene in Form von Salben oder Zäpfchen, die in die Scheide eingeführt werden das Trockenheitsgefühl lindern. In vielen Fällen bessert sich dann auch die Reizblase.“
Frauen mit häufigen Harnwegsinfekten sollten Maßnahmen ergreifen, um wiederholte Blasenentzündungen zu vermeiden. Bei einer Gebärmutter- oder Scheidensenkung können die abgesenkten Organe durch ein Pessar gestützt oder durch eine Operation wieder angehoben werden. Eine gutartige Prostatavergrößerung bei Männern kann mit Medikamenten – meist mit Tamsulosin – oder durch eine Operation, bei der die Prostata verkleinert wird, behandelt werden.
Daneben kann sich ein gesunder Lebensstil möglicherweise günstig auf die Symptome der Reizblase auswirken. Dazu gehört, mit dem Rauchen aufzuhören, Alkohol und Koffein in Maßen zu sich zu nehmen und Übergewicht abzubauen.
Reichen all diese Maßnahmen nicht aus, können im nächsten Schritt Medikamente verschrieben werden. „Als Mittel der ersten Wahl werden Anticholinergika eingesetzt“, berichtet Peschers. „Sie helfen vielen Betroffenen gut. Allerdings können sie zu Nebenwirkungen wie Mundtrockenheit, Verstopfung, einer unvollständigen Entleerung der Blase und in manchen Fällen zu Herzrhythmusstörungen führen. Daher sollte man bei jedem Patienten genau schauen, welche Vorerkrankungen er hat, welche Medikamente er bereits nimmt und wie gut das Anticholinergikum vertragen wird.“ Bei grünem Star (Glaukom) dürfen Anticholinergika nur nach Rücksprache mit dem Augenarzt verordnet werden, weil sie den Augeninnendruck erhöhen können. Daneben kann das Beta-3-Sympathomimetikum Mirabegron eingesetzt werden. „Allerdings kann es zu Herzrhythmusstörungen und Bluthochdruck führen und ist daher für ältere Menschen und Menschen mit Herzerkrankungen oder Bluthochdruck nicht geeignet“, betont die Gynäkologin.
Bessern sich die Symptome durch Anticholinergika nicht oder treten Nebenwirkungen auf, kann in einem ambulanten Eingriff Botulinumtoxin in die Blasenmuskulatur gespritzt werden, so dass diese abgeschwächt wird. „Diese Behandlung ist allerdings nur nach einem erfolglosen Versuch mit Anticholinergika zugelassen“, betont Peschers. „Botulinumtoxin hat bei vielen Patienten eine sehr gute Wirkung, die zwischen drei Monaten und zwei Jahren anhalten kann. In der Regel beträgt die Wirkdauer ein Jahr.“ Allerdings kann es auch hier zu Nebenwirkungen kommen: „Bei fünf Prozent der Patienten kommt es zu Restharn“, sagt die Expertin. „Sie müssen dann über viele Monate ihre Blase mithilfe eines Katheters entleeren. Das ist schon ein relevantes Problem.“
Eine weitere Behandlungsmöglichkeit ist die sakrale Neuromodulation – auch als Blasenschrittmacher bezeichnet. Dabei werden Elektroden an bestimmten Nervenbahnen im Rückenmark im Bereich des Kreuzbeins implantiert, die die Spannung der Blasenmuskulatur verringern. „Diese Methode kommt jedoch nur bei wenigen Patienten zum Einsatz“, sagt Peschers.
In jedem Fall sollten die Betroffenen die Beschwerden einer Reizblase nicht einfach hinnehmen, sondern sich frühzeitig ärztliche Unterstützung suchen. Frauen können sich an Gynäkologen, ein Kontinenzzentrum oder eine urogynäkologische Sprechstunde, Männer an einen Urologen wenden. Besteht die Problematik länger, kommt es oft zu einem Teufelskreis: Durch die häufigen Toilettengänge oder durch bewusst geringe Trinkmengen schrumpft die Blase, so dass sie schon bei kleinen Trinkmengen mit Harndrang reagiert. Die Behandlung ist dann entsprechend aufwändiger.
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