Die WHO hat zuckerfreie Süßungsmittel in einer neuen Richtlinie als „ungeeignet zur Gewichtsabnahme“ deklariert – laut einer aktuellen Studie scheint Sucralose sogar die DNA zu schädigen. Warum ist das süße Leben nicht gesund zu haben?
Nach bitter geht’s dir schlecht, süß gibt Kraft! Diese Erfahrung unserer Urahnen soll nach Ansicht heutiger Anthropologen einen gehörigen Anteil an der gegenwärtig so viele Probleme bereitenden Vorliebe für süß schmeckende Nahrung tragen. Toxische Naturstoffe am bitteren und energiedichte am süßen Geschmack erkennen zu können, war in frühen Phasen der menschlichen Evolution ein Selektionsvorteil. Denn bei „Homo antiquitus“ waren Nahrungsknappheit und Energiemangel bei vergleichsweise hohem Kalorienverbrauch das Problem. Neben Fett waren hohe natürliche Zuckergehalte hilfreiche Energielieferanten.
Ob seinerzeit eine echte im Erbgut verankerte „Prägung auf süß“ stattgefunden hat, ist nicht abschließend geklärt. Und wie so oft wächst mit dem Erkenntnisgewinn die Größe der Wissenslücken. Denn seit die noch junge Epigenetik eruiert hat, dass Lebensstilfaktoren wie die individuelle Ernährungsweise via diverser DNA-Modifikationen und RNA-Interferenzen maßgeblich die Regulation der Genaktivitäten bestimmt, ohne die Gene selbst zu verändern, ist die Prägungsfrage eher komplizierter geworden.
Fest steht dagegen, dass sich die Selektionsdrücke im Laufe der Menschheitsgeschichte gehörig geändert haben. Aus dem körperlich geforderten Jäger und Sammler ist (in den wohlhabenden Industrienationen) ein vorwiegend sessiler „Homo bequemicus“ geworden, der jederzeit und überall hochkalorische Nahrung verfügbar hat und das energieaufwendige Jagen und Sammeln bestenfalls als zeitlich eng begrenzten Freizeitspaß oder eher widerwillig aus Gesundheitsgründen betreibt. Die einstige Bewertung von süß/hochkalorisch und bitter/giftig gilt nicht mehr. Dennoch sind unsere ersten irdischen Geschmackserfahrungen muttermilchig süß geblieben.
Mit dem Wirtschaftswunder kam der Wohlstand und mit ihm kamen die Figur- und anhängige gesundheitliche Probleme. Nicht zuletzt der inflationäre Anstieg der Adipositas-getriggerten Diabetes-Typ-2-Raten dürfte zu wesentlichen Teilen der hohen Aufnahme „leerer“ Kalorien aus kurzkettigen Kohlenhydraten in Kombination mit immer weniger Körperaktivität geschuldet sein. Der Wunschtraum des süßen Genusses ohne Reue schien durch ein zunehmend breites Angebot von Zuckerersatzstoffen erfüllbar zu werden.
Neu erfinden musste man erst einmal nichts. Denn der erste, bis heute konsumierte Süßstoff war schon Ende des 19. Jahrhunderts mehr oder weniger zufällig aufgetaucht. So denn die Legende stimmt, soll dem russischstämmige Zuckerchemiker Constantin Fahlberg 1878 beim Herumwerkeln mit Steinkohleteer ein bisschen was übergekocht sein, das wegen seines auffällig süßen Aromas das Interesse des umtriebigen Wissenschaftlers weckte. Einige Tier- und Selbstversuche später – 10g (!) soll Fahlberg täglich konsumiert haben – begann er seinen als Benzoesäuresulfimid identifizierten Süßstoff in eigener Fabrik zu produzieren und unter dem Namen Saccharin als billige Zuckeralternative zu vergolden.
Um Kalorieneinsparung ging es damals noch nicht und ob Fahlbergs recht früher Tod mit dem überbordende Saccharinkonsum in Zusammenhang steht, ist ungewiss. Die Geschmackprobe zählte seinerzeit zum Standardrepertoire der Chemiker, was dieser Berufsgruppe ohnehin eine kurze Lebenserwartung bescherte. Ein staatlicher, zum Schutz der Zuckerindustrie vorgeschobener Riegel ließ das Saccharin – den „Zucker der Armen“ – wie auch später entdeckte Süßstoffe lange in der Versenkung verschwinden. Erst als Wohlstandsbäuche, lebensstilbedingte Diabetesprävalenzen und löchrige Zähne zunehmend Probleme bereiteten, wuchs das Interesse an kalorienarmem, nicht insulinpflichtig verstoffwechselten sowie akariogenen Alternativen für den haushaltstypischen Kristallzucker (Saccharose). Die zunächst wegen der Insulinunabhängigkeit in Diabetiker-geeigneten Diätprodukten eingesetzte und heftig vermarktete Fruktose erwies sich als Fehlschlag und ist es wegen der lipogenen Wirkung sowie ebenso hohem Energiegehalt bis heute.
Die offizielle, seit 2014 auf EU-Ebene festgelegt Klassenbezeichnung für alle dem Zuckerersatz dienenden Lebensmittelzusatzstoffe lautet: Süßungsmittel. Gegenwärtig sind 19 derartige Verbindungen innerhalb der EU zugelassen. 11 davon sind sogenannte Süßstoffe, die übrigen acht Zuckeraustauschstoffe. Bei ersteren handelt es sich um praktisch kalorienfreie, künstliche Substanzen mit einer gegenüber dem Haushaltszucker zwischen etwa 30- bis über 3.000-fach höheren Süßkraft.
Zuckeraustauschstoffe dagegen sind selbst Zuckeralkohole, die in der Regel aus natürlichen Rohstoffquellen (z. B. Obst, Milch, Stärke) gewonnen werden. Ihre Süßkraft entspricht in etwa der Süße des herkömmlichen Rohrzuckers. Sie liefern aber bis zu 40 Prozent weniger Kalorien. Die acht EU-weit zur Verarbeitung in Lebensmitteln zugelassenen Zuckeraustauschstoffe sind:
Die vor allem in die Verwendung der nahezu energiefreien Süßstoffe gesetzten Hoffnungen, eine wirksame Waffe im Kampf gegen das wachsende Adipositasproblem zu sein, erfüllten sich nicht. Die Flut von aus geschmacklichen Gründen meist mit einer Mischung verschiedener Süßstoffe versetzter Light- und Zeroprodukte ließen allenfalls die Kassen einiger Hersteller gesunden. Medizinisch dagegen gab es von Beginn an Befürchtungen hinsichtlich möglicher gesundheitlicher Langzeitfolgen eines regelmäßigen Konsums. Vor allem eine potenziell krebsauslösende Wirkung stand immer wieder in der Diskussion und wurde aktuell durch eine prospektive französische Kohortenstudie neu befeuert. 13 Prozent mehr Krebsfälle in der Kohorte mit hohem Süßstoffkonsum eruierten die Wissenschaftler um Charlotte Debras von der Pariser Sorbonne. Eine Kausalität sei aber aufgrund der insgesamt geringen Krebsinzidenz nicht aus der Langzeituntersuchung ableitbar. Zudem beruhte die Analyse – wie so oft bei Ernährungsstudien – auf den Probanden-geführten Ernährungsprotokollen, was eine hohe Unsicherheit beinhaltet.
Brandaktuell haben Studienergebnisse einer möglicherweise genotoxischen Wirkungen des häufig eingesetzten Süßstoffs Sucralose die Fachwelt aufgeschreckt. Die Forschungskooperation „Biomedical Engineering“ der University of North Carolina und North Carolina State University diente der Bestimmung der toxikologischen und pharmakokinetischen Eigenschaften von S-6-A. Dabei handelt es sich um ein Strukturanalogon der Sucralose. S-6-A ist ein Zwischenprodukt bei der Sucralose-Produktion und oft als Verunreinigung im verkaufsfertigen Süßstoff zu erhalten. Stuhlproben von Sucralose-gefütterten Nagetieren zeigten bis zu 10 % erhöhte S-6-A-Konzentrationen im Vergleich zum eingesetzten Süßstoff, woraus die Wissenschaftler schließen, dass Sucralose auch im Darm acetyliert wird.
Beim Einsatz neuer molekularbiologischer Methoden zum Nachweis genotoxischer Aktivität (MultiFlow-Assay, Mikrokerntest) offenbarte S-6-A in vitro eine klastogene (DNA-Strangbrüche verursachende) Aktivität. Besonders erschreckend dabei: Die genotoxisch wirksame S-6-A-Dosis von 0,15 µg/Person/Tag wird bereits mit einem Sucralose-gesüßten Getränk weit überschritten.
Weitere In-Vitro-Analysen mit humanem Darmepithel zeigten, dass Sucralose und S-6-A auch epigenetisch wirksam sind und signifikant die Expression von Genen verstärken, die mit Entzündungen, oxidativem Stress und Krebs assoziiert sind. Damit immer noch nicht genug, scheinen der Süßstoff und sein Analogon auch die Integrität der Darmbarriere durch Permeabilitätserhöhung zu beeinträchtigten sowie zwei Enzyme des Cytochrom-P450-Sytems (bekannt für seine Wechselwirkung mit Grapefruitsaft) zu hemmen. Trotz fehlender klinischer Belege begründen diese Ergebnisse erhebliche Zweifel an der Unbedenklichkeit des Sucralose-Konsums bereits in niedriger Dosierung.
Hinsichtlich der kardiovaskulären Risiken sorgte eine im Februar dieses Jahres von einem Forschungsverbund der Cleveland Clinic Ohio und der Berliner Charité publizierten Erythrit-Studie für Aufsehen. Als relativ schwach süßender Zuckeraustauschstoffe (60–70 % der Saccharose-Süßkraft), durch industrielle Fermentation von aus Maisstärke stammendem Glukosesirup gewonnen, hat Erythrit durch die in der Adipositas-Bekämpfung als auch in der Fitnessszene gerade so angesagten „Low-Carb-/Ketogen“-Konzepte Popularität erlangt. Durch den natürlichen Ausgangsstoff lässt sich Erythrit auch in hoch verarbeiteten Fertigprodukten gut vermarkten, die Produktion ist kostengünstig.
In den Metabolom-Analysen der Studie wiesen in drei Kohorten kardiologisch vorbelasteter Patienten (n = 833 bis 2.149) jeweils jene mit den höchsten Erythrit-Plasmakonzentrationen ein 80 bzw. 121 Prozent höheres Risiko für ein schweres kardiovaskuläres Ereignis („Major Adverse Cardiovascular Events“ MACE) auf. Auch tierexperimentelle In-vitro-Analysen zeigten eine Erhöhung der Thrombozytenaggregation mit konsekutiver Gerinnselbildung. Trotz dieser Hinweise lässt sich der Einsatz von Erythrit als Süßungsmittel nicht als kausale Ursache der erhöhten Plasmakonzentrationen von MACE-Betroffenen festmachen. Erythrit ist auch in naturbelassener Nahrung wie Obst enthalten und wird zudem endogen synthetisiert. Demzufolge könnte bei Menschen mit erhöhtem kardiovaskulären Risikoprofil auch eine genetisch/epigenetisch bedingte Erhöhung der endogenen Erythritproduktion maßgeblich sein.
Trotz fehelender experimenteller Daten kursiert schon lange die Vermutung, dass der Süßstoffkonsum dem Gehirn eine Zuckeraufnahme „vorgaukelt“, die eine Insulinausschüttung und daraus resultierend ein Hungergefühl provoziert. Letztlich würden so in der Endbilanz mehr Kalorien zugeführt als beim Verzehr zuckerhaltiger Nahrung. Die Saccharinzulassung für die Schweinezucht Ende der 1980er Jahre nährte diese Vermutung. Und auch der auf vielen Lightprodukten zu findende Vermerk, „Kann bei übermäßigem Verzehr abführend wirken“, rundet das zunehmend negative Süßstoffimage ab.
In jüngster Zeit sind möglich Negativwirkungen auf die Komposition des Darm-Mikrobioms und daraus folgend eine Verminderung der Glukosetoleranz in den Fokus gerückt. Bei einer am Weizman Institute of Science in Rechovot, Israel, geleiteten Humanstudie mit randomisiert-kontrolliertem Design induzierten besonders Saccharin und Sucralose in alltagstypischer Dosis eine deutliche Blutzuckerreaktion, die auf eine Verminderung der körpereigenen Glukosekontrolle hinweist.
Die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (European Food Safety Authority, EFSA) hat für alle in der EU zugelassenen Süßstoffe akzeptable tägliche Aufnahmemengen (Acceptable Daily Intake, ADI) festgelegt. Allerdings wurden diese ADI-Werte tierexperimentell aus dem langzeitigen Einsatz von Tierfutter abgeleitet, das mit weit über dem menschentypischen Konsum liegenden Süßstoffkonzentrationen angereichert ist. Die so für die Tiere bestimmten Unbedenklichkeitsdosen (No-Observed-Adverse-Effect-Level, NOAEL) wurden um einen Sicherheitsfaktor (in der Regel 100) dezimiert und auf die menschliche Ernährung transferiert. Diese rein tierexperimentell ermittelten Werte können Zweifel kaum beseitigen. Trotz des großzügigen Puffers steht die Unbedenklichkeit eines lebenslangen, gegebenenfalls täglichen Süßstoffkonsums auf tönernen Füßen.
Die WHO setzt bei ihrer aktuellen Richtlinie zum Gebrauch von Zuckerersatzstoffen ganz an der Basis möglicherweise durch Süßungsmittelkonsum beförderter Pathogenesen an – beim Kampf gegen fettbedingtes Übergewicht und Adipositas. Darin empfiehlt das Expertengremium, „zuckerfreie Süßungsmittel nicht als Mittel zur Gewichtskontrolle oder um das Risiko nichtübertragbarer Krankheiten zu verringern, einzusetzen“. Einer kurzzeitigen Gewichtsabnahme ständen langfristig erhöhte Risiken für die Entwicklung von Übergewicht und Adipositas, für Typ-2-Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen gegenüber. Die Organisation stützt sich auf eine systematische Übersichtsarbeit und Metaanalyse, die 45 randomisiert-kontrollierte Studien (RCTs) umfasst. Ausdrücklich reiht die WHO nicht nur synthetische Süßstoffe in die Phalanx ungeeigneter Süßungsmittel ein, sondern inkludiert ausdrücklich auch aus natürlichen Ausgangsprodukten gewonnenen Zuckerersatz einschließlich aus der Steviapflanze gewonnener Produkte. Wenig überraschen sollte unabhängig von der Süßstoffbewertung auch der Zuckerkonsum reduziert werden.
Wenn dem Konsum zuckerfreier Süßungsmittel überhaupt etwas Positives abzugewinnen ist, verengt sich das auf den schwachen Hinweis einer akariogenen Wirkung, die in bescheidenen zwei der eingeflossenen RCTs zum Ausdruck kommt.
Als echtes Manko muss die Beschränkung der WHO-Richtlinie auf Erwachsene bewertet werden. Gerade im Kindes- und Jugendalter werden doch die entscheidenden Weichen für die lebenslange Entwicklung von Körpergewicht und -komposition gestellt. Da aber nur fünf der eingeflossenen 45 RCTs Probanden im Kindesalter einbeziehen, lasse die Datenlage keine Empfehlungen für den kindlichen/jugendlichen Verzehr von Süßungsmitteln zu.
Der einzig effektive Ausweg aus der Süß-Falle scheint eine viel Eigendisziplin erfordernde Umprägung zu sein, was bekanntlich auf den eingefahrenen Geleisen des reiferen Lebensalters immer schwieriger wird. Die Omnipräsenz von durch Zucker und seine Ersatzstoffe unnatürlich übersüßten Produkten fester und flüssiger Konsistenz macht die Sache nicht leichter. Wie wirksam die neue WHO-Richtlinie sein wird, um Menschen via Überzeugung ins Handeln zu bringen, darf bezweifelt werden. Ohne verpflichtende Vorgaben an die Lebensmittelindustrie (allen voran die Softdrink-Produzenten), wird ein durchschlagender Erfolg kaum erwartbar sein.
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