Nach zwei Jahrzehnten erreicht das eRezept im deutschen Gesundheitswesen demnächst die Ziellinie – oder doch nicht? Ob es diesmal wirklich klappt, soll die finale Testrunde zeigen.
Das ist doch was: Ex-Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt, die im Jahr 2003 einst den Startschuss für das eRezept gegeben hatte, dürfte dessen flächendeckende Einführung noch erleben. Dass es so lange dauern würde, damit hat die demnächst 74-jährige Sozialpolitikerin damals mit Sicherheit nicht gerechnet. Verzögert wurde das eRezept im Laufe der letzten 20 Jahre von so ziemlich jedem – von Apothekern, die sich vor Online-Apotheken fürchteten, von Ärzten, die andere Dinge zu tun hatten und von einem FDP-Gesundheitsminister, der 2009, als Gesundheitssysteme weltweit digitalisiert wurden, auf die interessante Idee kam, ein Digitalisierungsmoratorium zu verhängen – eine (von vielen beklatschte) Fehlentscheidung, an der das deutsche Gesundheitswesen mehrere Jahre zu knabbern hatte.
Auch beim aktuellen, je nach Zählweise dritten bis vierten Einführungsanlauf des eRezepts lief bekanntlich nicht alles glatt. Die beiden Modellregionen in Schleswig-Holstein und Westfalen-Lippe, von denen im Jahr 2022 der bundesweite Rollout hätte ausgehen sollen, stoppten diesen, bevor er richtig begonnen hatte. Grund war, dass kaum ein Patient den offiziellen Übertragungsweg für das eRezept, die eRezept-App der Gematik, nutzte. Denn die war und ist dermaßen umständlich zu aktivieren, dass es viele abschreckt. Gleichzeitig erregte ein von einigen Praxis-IT-Herstellern ersonnener Bypass, ein E-Mail-Versand des eRezept-Barcodes von der Arztpraxis an die Apotheke, den Zorn der Datenschützer. Ob das wirklich einen Abbruch des Rollouts rechtfertigte, darüber gibt es bis heute sehr unterschiedliche Meinungen. Es ging in jedem Fall nicht nur um die Sache, sondern auch um starke Egos.
Vergessen, verschüttet, vorbei. Denn diesmal soll es klappen, und erneut ist das Gebiet der KV Westfalen-Lippe ein zentraler Schauplatz. Ergebnis der Datenschutzscharmützel vom Herbst 2022 war der Auftrag an die Gematik, einen weiteren Übertragungsweg für das eRezept zu schaffen – nämlich den an sich naheliegenden Weg über die elektronische Gesundheitskarte (eGK). Dieser, sagt Jakob Scholz, stellvertretender Geschäftsbereichsleiter IT bei der KVWL, werde zum Beispiel in Österreich für einen Großteil der eRezept-Übertragungen genutzt.
Dabei wird nicht das eRezept auf der eGK abgelegt, wie manche immer noch glauben. Der Prozess ist vielmehr ähnlich wie bei der eRezept-App. Das eRezept wird von der ausstellenden Arztpraxis wie bisher auf dem eRezept-Server der Telematikinfrastruktur (TI) deponiert. Die eGK des Patienten dient der Identifizierung. In der Apotheke wird die eGK vorgelegt und das eRezept vom Server geladen. Fertig. Nutzt der Patient die eRezept-App, kann er das eRezept auch ohne eGK an eine (auch Online-)Apotheke weiterleiten oder in seiner Apotheke anfragen, ob das Medikament vorrätig ist. Der dritte, eher semidigitale Weg geht über einen gedruckten oder anderweitig dem Patienten übermittelten Datamatrix-Code, der dann als Wegweiser zum Ablageort des eRezepts auf dem eRezept-Server dient.
In Westfalen-Lippe starten jetzt am 1. Juli so genannte Cluster-Tests für die bisher nicht erprobte Übertragung des eRezepts per eGK: „Läuft alles glatt, werden wir unseren Praxen zum 1. Oktober die flächendeckende Einführung des eRezepts empfehlen“, so Scholz im Gespräch mit DocCheck. Zwei bis drei Cluster soll es in der Vorerprobung des eGK-Übertragungswegs ab Juli geben, wobei in Abstimmung mit dem Apothekerverband jeweils darauf geachtet wird, dass in der Umgebung der ausstellenden Arztpraxen möglichst alle Apotheken mit ihren Apotheken-IT-Systemen eGK-fähig sind: „Damit wollen wir erreichen, dass die Zahl der Rückläufer in die Arztpraxen so klein wie möglich ist und Frust bei Praxen wie Patienten vermeiden.“
Eine Menge gearbeitet wurde in den letzten Monaten auf Seiten der Prozesse: „Unsere Ärzte haben sich hier intensiv eingebracht, sodass die Spezifikation immer weiter verbessert werden konnte.“ Die Spezifikation ist das eine, die Umsetzung in den Praxisverwaltungssystemen (PVS) das andere. Hier ist noch viel Arbeit zu leisten: „Wir haben aktuell 13 PVS im Rollout, die einen Reifegradgradprozess durchlaufen haben und bei denen mehr als zehn von uns definierte Kernthemen gelöst sind bzw. nicht mehr auftreten“, betont Scholz. Das klingt gut, am Ende müssen dann aber auch die übrigen rund 130 Praxis-IT-Systeme so „reif“ wie möglich sein. Hier sind noch ein paar Fragezeichen angebracht.
Wie sehen die Prozesse konkret aus, was wurde optimiert? „Ein großes Thema war die Performance“, so Scholz. Das Signieren und Versenden von eRezepten dauerte anfangs oft viel zu lang und wurde als störend empfunden, was teils an der Umsetzung im PVS, teils am eRezept-Server, teils an anderen Dingen lag. Diese Probleme seien zumindest für die 13 Vorreiter-Systeme größtenteils beseitigt worden. Zentrales Werkzeug ist die so genannte Komfortsignatur, die es erlaubt, bis zu 250 Signaturen für maximal 24 Stunden freizuschalten, die dann ohne PIN-Eingabe aufgebracht werden können.
Ein zweites Prozessthema ist die Signatur-Sammelmappe. Dort landen alle eRezepte und weitere zu signierende Dokumente, und dort können sie dann auch mit der Möglichkeit einer Voransicht signiert werden. Der Arzt muss zum Signieren also nicht (erneut) in die individuelle Patientenakte, sondern es kann direkt aus der Sammelmappe heraus signiert und versendet werden. Das ist insbesondere für Vielrezeptierer unter Umständen ein deutlicher Zeitgewinn. Ein drittes Thema sind Funktionen, die die Übereinstimmung von Verordner und Systemnutzer überprüfen. Das war in den ersten eRezept-Tests ein häufiges Problem, das auf Apothekenebene vereinzelt zu Retaxationen führte. Auch das sei zumindest für die besagten 13 IT-Systeme gelöst, so Scholz.
Ein paar Baustellen gibt es trotzdem noch. Charmant an der von den Datenschützern im Herbst 2022 „gecancelten“ eRezept-Übertragung per E-Mail war unter anderem, dass sie eine elegante Möglichkeit bot, eRezepte für Pflegeheimpatienten in die Apotheken zu bekommen. Dafür wäre – sofern der Arzt nicht persönlich im Pflegeheim vorbeischaut – der eGK-Weg eher sperrig.
Was tun? Weiterhin ausdrucken und faxen ist eine Option, aber nicht die einzige: „Wir setzen stark auf den Übertragungsdienst KIM“, so Scholz. KIM ist der sichere E-Mail-Dienst der Telematikinfrastruktur. Mit KIM lässt sich nicht nur das eRezept in die Apotheke schicken, es können auch Rezeptanforderungen aus dem Pflegeheim an den Arzt per KIM übermittelt werden – jedenfalls dann, wenn die Pflegeheime an die TI angeschlossen sind, was derzeit nur punktuell der Fall ist. „Wenn das kommt, dann wird der Mehrwert des eRezepts für alle erkennbar. Mit einem echten eRezept für Pflegeheime würden die Arztpraxen enorm viel Zeit sparen“, so Scholz.
Was Videosprechstunden bzw. telemedizinische Dienstleister angeht, treffen Umsetzungsfragen beim Thema eRezept auf regulatorische Baustellen, die noch zu bearbeiten sind. In Konstellationen, bei denen ein Videosprechstundenpatient im selben Quartal in der Praxis war, sollte das eRezept keine Probleme machen. Bei rein telemedizinischer Versorgung ist eine Identifikation per eGK nicht ohne Weiteres möglich. In diesen Fällen braucht der Patient den Barcode, mit dem er einer Apotheke seiner Wahl ohne eGK-Zugang zum eRezept verschaffen kann. Einige Telemedizindienstleister wollen hier erst einmal mit einem PDF-Dokument arbeiten, aber es sind auch andere Wege denkbar. Die eRezept-App wäre eine gute Option, wenn es denn gelänge, sie etwas bekannter zu machen.
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