Neben Drinks und Tabletten gibt’s Melatonin jetzt auch als Gummibärchen. Das perfekte Betthupferl für aufgedrehte Kinder? Das kann gefährlich werden.
Es klingt so einfach: Wenn dein Kind abends nicht müde ist, dann gib ihm einfach ein Gummibärchen mit einer natürlichen, schlaffördernden Substanz. Sie macht nicht abhängig, hat so gut wie keine Nebenwirkungen und dein Kind schläft ruhig ein. Klingt zu schön, um wahr zu sein? Finde ich irgendwie auch – doch die schöne TikTok-Welt suggeriert ihren Usern, dass sie genau das mit der Gabe von Melatonin-Gummibärchen erreichen.
Wie viel Evidenz steckt eigentlich dahinter und was machen wir, wenn das Kind in einem unbeobachteten Moment die ganze Packung „Süßigkeiten” leerfuttert?
Melatonin ist als das Schlafhormon schlechthin bekannt. Es wird mittlerweile von vielen Nahrungsergänzungsmittel-Produzenten in verschiedenen Darreichungsformen mit 0,5 oder 1 mg Wirkstoff pro Dosis auch als solches beworben – natürlich unter Beachtung der Health-Claims-Verordnung, versteht sich. Man findet hier Angaben wie „Melatonin trägt dazu bei, die Einschlafzeit zu verkürzen“ oder auch „Melatonin trägt zur Linderung des subjektiven Jetlag-Gefühls bei“. Der Einsatz als Schlafmittel, ganz besonders auch für Schichtarbeiter, klingt logisch, denn der beinahe ausschließlich nur nachts vom Körper produzierte Neurotransmitter steuert unter anderem gemeinsam mit Adenosin den Schlaf-Wach-Rhythmus.
Wird es dunkel, beginnt die Melatoninproduktion. Während ein Cochrane-Review die Evidenz von Melatonin im Einsatz gegen Jetlag hervorhob, konnte es hingegen bei reinen Schlafstörungen bei weitem nicht so gut punkten, wobei sich die Studienlage hier allerdings als heterogen darstellt. Eine Übersichtsstudie aus dem Jahr 2013 bescheinigt Melatonin lediglich bescheidene Effekte, die Verlängerung der Gesamtschlafdauer lag nur zwischen 7 und 8,5 Minuten, was kein wirklich merkbarer Unterschied ist. Immerhin zeigten sich eine verbesserte Schlafqualität und kaum relevante Neben- und Wechselwirkungen.
Laut einer Stellungnahme der Arbeitsgruppe Pädiatrie der Deutschen Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin kann eine Melatoninausschüttung zum falschen Zeitpunkt aber die innere Uhr quasi verstellen. Schläfrigkeit am nachfolgenden Tag und ein auffälliges Verhalten mit Konzentrationsproblemen und Hyperaktivität können die Folge sein. Das zeigt, dass die willkürliche Gabe des Schlafhormons ausschließlich durch die Eltern und ohne ärztliche Begleitung für gesunde Kinder durchaus negative Folgen haben kann. Die Arbeitsgruppe weist explizit darauf hin, dass Schlafstörungen, die primär durch inadäquate Einschlafassoziation oder Grenzsetzung ausgelöst werden, nicht mit Melatonin therapiert werden sollten. An dieser Stelle wird vor allem auf eine günstige Schlafhygiene verwiesen.
Wieviel Melatonin in den Gummibärchen für Kinder eigentlich genau enthalten ist, die man im normalen Handel bestellen kann, weiß übrigens niemand so ganz genau. Das liegt daran, dass sie nicht als Arzneimittel, sondern als Nahrungsergänzungsmittel vertrieben werden. Diese unterliegen ganz anderen Vorgaben, da sie keinen Wirksamkeitsnachweis vorlegen und nicht zugelassen, sondern nur registriert werden müssen. Die Wirkstoffmengen von Arzneimitteln dürfen höchstens um fünf Prozent von der tatsächlichen Dosierung der Wirkstoffe, die auf der Verpackung angegeben sind, abweichen. Bei Nahrungsergänzungsmitteln sind es ganze fünfzig Prozent. Das ist vielen so nicht klar und erklärt im Übrigen auch, warum so einiges, was man im Internet oder im Supermarkt kauft, bei weitem nicht die Wirkung hat, wie die Medikamente, die man in Apotheken bekommt. Auf der anderen Seite können bei Nahrungsergänzungsmitteln so natürlich auch versehentliche Überdosierungen vorkommen.
Was ist nun von den Tipps in den Sozialen Medien zu halten, die suggerieren, dass es völlig ungefährlich sei, Kindern vorzugaukeln, sie bekämen nur ein Gummibärchen? Im besten Fall wirkt es wohl einfach nur nicht. Das kann zur Folge haben, dass der ein- oder andere kurzerhand die Dosis erhöht – ist ja nur ein Gummibärchen und damit harmlos, oder? Die meisten Studien werden entweder mit Erwachsenen gemacht, oder eben mit Kindern, bei denen gesundheitliche Störungen vorliegen. Studien mit Kindern, die weder an ADHS, noch an neurologischen Erkrankungen, Autismus-Spektrum-Störungen oder weiteren Vorerkrankungen leiden, sucht man vergebens. Doch ist das genau die Zielgruppe, die in der Werbung für Nahrungsergänzungsmittel mit Melatoningummibärchen angesprochen wird. Es ist nicht ganz unwahrscheinlich, dass die Melatoningabe bei gesunden Kindern keine spürbaren Effekte bringt, was die Eltern dazu verführen könnte, die Verabreichung zu erhöhen und statt einem halben Gummibärchen gleich zwei oder drei zu geben.
Was kann passieren, wenn die Eltern zu viel verabreichen? Und was geschieht mit Kindern, die einmal unbeobachtet an die vermeintliche Packung leckerer Gummibärchen gelangen und gleich eine Handvoll verzehren? In Deutschland gibt es den Melatonin-Hype noch nicht so lange wie in den USA, daher können wir im Vorfeld schon einmal sehen, was auf uns zukommen kann. Es gibt Studien, die sowohl allgemein betrachten, wie sehr sich der Konsum in den vergangenen zehn Jahren vermehrt hat, als auch, wie viele Vergiftungen in der beschriebenen Weise vorgekommen sind. Im Zeitraum 2012–2021 stieg die jährliche Zahl der Melatonineinnahmen bei Kindern in den USA um unglaubliche 530 %. In der Folge nahmen pädiatrische Krankenhausaufenthalte und schwerwiegendere Folgen natürlich ebenfalls zu – vor allem aufgrund einer Zunahme der unbeabsichtigten Einnahme von Melatonin bei Kindern im Alter bis 5 Jahre.
Melatonin wurde im Jahr 2020 sogar zur am häufigsten von Kindern eingenommenen Substanz, die den dortigen nationalen Giftnotrufzentralen gemeldet wurde. Und dabei ging es mitnichten nur um eine Verschiebung des Schlaf-Wach-Rhythmus, denn fünf Kinder mussten künstlich beatmet werden, zwei starben.
Zum Glück waren 84,4 % der Kinder asymptomatisch. Unter den gemeldeten Symptomen betrafen die meisten das Magen-Darm-, Herz-Kreislauf- oder Zentralnervensystem. Immerhin 14,7 % wurden ins Krankenhaus eingeliefert, 1 % benötigten Intensivpflege und 1,6 % erlitten schwerwiegendere Folgen. Die beiden Todesfälle ereigneten sich bei Kindern im Alter von unter 2 Jahren, bei einem in der Folge eines vorsätzlichen Medikamentenmissbrauchs. Alleine an diesen dokumentierten Vorfällen lässt sich erkennen, dass es durchaus möglich ist, Melatonin überzudosieren. Auch wenn es nicht in dieser drastischen Form erfolgt, gehen die Eltern trotzdem das potentielle Risiko ein, ihre Kinder übermüdet und benommen auf den Schulweg zu schicken – was bereits gefährlich genug ist.
Sollten also gestresste Eltern in der Apotheke nach Schlaf-Gummibärchen für ihre Kinder fragen, sollte eine entsprechende Aufklärung über die Risiken der Einnahme erfolgen. Auch sollte man raten, hier keine Selbstmedikation zu probieren, sondern den Kinderarzt zur Beratung aufzusuchen. Denn entweder „behandelt” man ein an sich gesundes Kind mit der Gefahr, den zirkadianen Rhythmus durcheinander zu bringen oder ein krankes Kind, das möglicherweise ärztliche Hilfe benötigt. Hier lange selbst herumzuprobieren und dabei möglicherweise in die falsche Richtung zu behandeln, kann zu einer Chronifizierung des gesundheitlichen Problems beitragen. Das ist einfach zu gefährlich, auch wenn das entsprechende Gummitierchen noch so harmlos aussieht.
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