Strukturreform durch Sozialismus? Das Gerede von der Entökonomisierung des Gesundheitssystems hilft niemandem. Es vergrault aber die, die Lust haben, Dinge besser zu machen.
Deutschland ist das einzige Land, in dem ein Gesundheitsökonom auf dem Chefposten des Gesundheitsministeriums lauthals für Entökonomisierung wirbt. Unvergessen die Weihnachtsbotschaft des Ministers im Jahr 2022 auf Twitter: „Profitorientierte Ketten von Arztpraxen feiern wahrscheinlich ihr letztes schönes Weihnachten. Schon bald kommt das Ende.“
Seither legt der Minister bei jeder Gelegenheit nach, etwa bei einer Konferenz der Gewerkschaft Verdi im März 2023, wo er erläuterte, dass das derzeitige System dazu führe, dass „die Falschen Gewinne und die Falschen Verluste“ machten und die Qualität in der Tendenz nach unten gedrückt werde. Wer die Richtigen sind, verriet er nicht. Und das mit der negativen Korrelation zwischen Kapitalismus und Qualität führte er auch nicht näher aus. Wäre aber interessant gewesen, doch lieber geißelte der Minister die Ökonomisierung beim Deutschen Ärztetag Mitte Mai erneut. Wieder ohne Zahlen und Fakten.
Die „Entökonomisierung“ hat in des Ministers Gedankenwelt zwei Ebenen. Die Krankenhausreform soll die DRG-Finanzierung zurückdrängen: Ein Anteil der Klinikbudgets – zum Beispiel 50 Prozent – soll künftig als Vorhaltepauschale DRG-unabhängig ausgezahlt werden, der Rest über DRGs. In der ambulanten Welt wiederum sollen investorenbetriebene MVZ in die Schranken verwiesen werden. Das Feindbild sind MVZ-Betreiber, die sich in die Versorgung einkaufen und auf Kosten der Allgemeinheit Geld drucken. Die „Heuschrecken“ heißen Avi Medical, Patient21 oder Doktor.De. Patient21 konzentriert sich auf Zahnarztpraxen, Avi Medical und Doktor.De sind allgemeinmedizinisch unterwegs. In der Labormedizin und der Radiologie gibt es ebenfalls derartige Ketten.
Wie sieht diese Entökonomisierung politisch konkret aus? Im Fall der Krankenhäuser erwarten wir den Gesetzentwurf für die große Klinikreform. Der hat sich stark verzögert, weil der Minister an den Bundesländern vorbei reformieren wollte, was nicht sehr zielführend war. Im Fall der MVZ sind drei Bundesländer – Bayern, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein – vorgeprescht und haben einen Antrag zur Schaffung eines MVZ-Regulierungsgesetzes in den Bundesrat eingebracht. Dieser sieht einen Maximalradius von 50 km für von Krankenhäusern betriebene MVZs vor, dazu Begrenzungen des Versorgungsanteils für neue MVZ im jeweiligen Planungsbereich auf 25 % (Hausärzte) bzw. 50 % (Fachärzte) sowie eine Streichung der Möglichkeit des Arztstellenerwerbs für MVZ im Wege des Zulassungsverzichts. Letzteres würde eine obligate Neuausschreibung von Kassensitzen bedeuten.
Bei diesen Plänen dreht sich einigen der Magen um. Auch manchem, der in Sachen Heuschrecke unverdächtig ist: „Ich finde die Diskussion auf der einen Seite populistisch, auf der anderen Seite ist es eine Nebelkerze, die da geworfen wird“, sagt Dr. Helmut Hildebrandt, Vorstandsvorsitzender der OptiMedis AG. Die Hamburger treiben seit Langem regionale Gesundheitsnetze voran – und verteufeln dabei die Ökonomie nicht, sondern nutzen sie gezielt für bessere Versorgung zu niedrigeren Kosten.
Dass das mehr ist als Marketing, hat kürzlich die OECD bescheinigt, die in einem Bericht hochrechnete, was sich in Deutschland einsparen ließe, wenn das Gesundheitssystem flächendeckend so organisiert wäre wie in Regionen wie „Gesundes Kinzigtal“, seit 15 Jahren das Vorzeigeprojekt von OptiMedis. Immerhin 4,6 % der Gesamtkosten könnte das deutsche Gesundheitswesen demnach bis 2050 einsparen, aktuell 14 Milliarden Euro pro Jahr.
Das gelingt mit Ökonomisierung nicht gegen sie. Konkret schließt OptiMedis mit den Kostenträgern einer Region Dachverträge ab, die Investitionen in Gesundheit anreizen, was langfristig Einsparungen generiert: „Wenn wir diesen Effekt, ökonomisch gesprochen die Shared-Savings, für denjenigen, der anfangs investiert, anteilig verfügbar machen, haben wir ein stabiles Business Modell geschaffen, das die Produktion von Gesundheit belohnt“, so Hildebrandt im Gespräch mit DocCheck.
Die Krankenhausreform belohnt Gesundheit dagegen auch in Zukunft gar nicht. Sie sei letztlich nur eine kleine Variation dessen, was bisher gemacht wurde, so Hildebrandt: „Die Kaufmännischen Leitungen werden sich weiterhin überlegen, wie sie über der Vorhaltepauschale zusätzliche Einnahmen generieren können. Das wird sich so lange nicht ändern, wie das Gesundheitswesen auf leistungsbezogene Vergütung ausgerichtet ist – statt auf Produktion von Gesundheit.“
Hildebrandt will mehr Ökonomie, nicht weniger, und anders als Lauterbach mit seiner These von den Segnungen der Entökonomisierung hat er dafür Daten. Nicht nur die schon erwähnte OECD-Modellierung, auch eine aktuelle Auswertung realer Versorgungsdaten, die die AOK zusammen mit der US-amerikanischen Accountable-Care-Organisation Kaiser Permanente publiziert hat: „Die Publikation hat die unterschiedlichen Finanzierungsmodelle beim Hüftgelenksersatz verglichen und zeigt, dass Deutschland mit dem Ansatz von Kaiser Permanente die Zahl der Krankenhaustage um 1,5 Millionen und die Zahl der postakuten stationären Tage um 3,5 Millionen pro Jahr reduzieren könnte. Wenn es einen Anreiz gibt, dann lässt sich die Hüftgelenksendoprothetik so organisieren, dass die Patienten optimal vorbereitet in die OP gehen, entsprechend schneller wieder fit werden und weniger Komplikationen haben. Die Zahl der Wiederholungsoperationen ist in den USA nur ein Drittel der unsrigen.“
Die „richtige“ Ökonomie reizt Gesundheit an, und nicht Krankheit: Das, und nicht „Entökonomisierung“, ist die Botschaft, die Hildebrandt seit Jahrzehnten in der Politik zu platzieren versucht. Als Modell sieht er den Klimaschutz: „Dort wird mit der CO2-Emissionsbepreisung versucht, Ökonomie klug einzusetzen für die Erreichung der gesellschaftlich gewünschten Ziele. Genau diese Diskussion bräuchten wir auch im Gesundheitswesen. Stattdessen wird eine Pseudodiskussion über Entökonomisierung entfacht.“
Szenenwechsel. Dr. Dirk Tietz ist Co-Geschäftsführer von Doktor.De, einem jener Betreiber von investorengetriebenen MVZ (iMVZ), denen Karl Lauterbach das letzte ruhige Weihnachten wünschte. Doktor.De ist die deutsche Tochter von Doktor.Se, ein schwedisches Unternehmen, das sich hybride Versorgungsmodelle auf die Fahnen geschrieben hat. Das Unternehmen investiert in MVZ und verquickt diese mit telemedizinischen App-basierten Versorgungsangeboten. Aktuell betreibt das Unternehmen sechs MVZ, fünf davon im Osten Berlins, alle allgemeinmedizinisch.
„Wir machen explizit kein Cherry-Picking im Facharztbereich, sondern fokussieren uns auf hausärztliche Einrichtungen“, so Tietz. „Wir suchen nicht primär die überversorgten Top-Lagen, sondern gehen gezielt auch in Gebiete, in denen die Versorgung verbessert werden kann – auch wenn es dort nicht einfach ist, Ärztinnen und Ärzte zu finden. Aber mit unserem Hybrid-Modell können wir ein attraktives Angebot machen. Einer der Standorte in Berlin die Praxis einer Einzelärztin in einem unterversorgten Gebiet, die bald in Rente gehen will und erfolglos einen Nachfolger gesucht hat. Sie hat den Sitz am Ende an uns gegeben in der Hoffnung, dass wir eine Nachfolge finden, und das ist uns auch gelungen. Das zeigt, dass ein Angebot wie unseres vor Ort ganz konkret helfen kann, Versorgung sicherzustellen.“
Heuschrecke klingt irgendwie anders. Doktor.De kommt von einer etwas anderen Seite als OptiMedis. Im Vordergrund steht nicht so sehr das Outcome, sondern eher der Zugang zur Versorgung. Auch das ist ein Thema, bei dem das deutsche Gesundheitswesen wachsende und von niemandem mehr bestrittene Defizite hat. Vergleichbar sind die beiden insofern, als jeweils Investitionsmittel aufgebracht werden, um erkannte Defizite anzugehen.
Präsenzversorgung und Telemedizin sind bei Doktor.De eng verknüpft. Es gibt eine App, bei der Patienten auch ohne Termin ins virtuelle Wartezimmer gehen können. Die Telebetreuung erfolgt teils durch Ärzte der sechs MVZs, teils durch weitere kooperierende Ärzte außerhalb der eigenen Standorte. Das führt zu einer hohen Flexibilität, die für Ärzte wie Patienten gleichermaßen attraktiv ist. Aktuell wurde dieser Weg um eine digitale Akutsprechstunde ergänzt, die es Patienten, die das möchten, ermöglicht, innerhalb fester Slots mit ihrem jeweils eigenen Hausarzt zu sprechen.
Die Diskussionen in Deutschland verfolgt Tietz, wie viele andere, mit einigem Staunen: „Die derzeitige MVZ-Debatte wird ein Stückweit abseits der Statistiken geführt. Wir sollten besser auf die Fakten schauen. Vieles, was da behauptet wird, ist nicht belegbar.“ Ein entscheidendes Argument für iMVZ ist aus Sicht von Tietz, dass sie zu Innovation beitragen: „Ein Gesundheitssystem kann dadurch einen Modernisierungsschub bekommen. Meine persönliche Meinung ist, dass diese Vorteile genutzt werden sollten und die vermutete Profitgier – sei es durch MVZ oder Einzelärzte – durch die bestehende Regulatorik zumindest im hausärztlichen Bereich bereits weitgehend vermieden wird.“
Die räumliche Einschränkung der Gründungsbefugnis für iMVZ würde konkret dazu führen, dass Doktor.De nur noch Praxen in einem Radius von 50 km um Hamburg-Bergedorf herum erwerben könnte. Denn die Trägergesellschaft für die MVZ von Doktor.De ist das kleine orthopädische Krankenhaus Praxis-Klinik Bergedorf. Mit einer solchen Regelung hätten allenfalls große Krankenhausketten die Möglichkeit, flächendeckend MVZ-Strukturen aufzubauen: „Das ist sicher nicht wettbewerbsfördernd, insofern sind diese Pläne eine Bevorteilung großer Krankenhausketten, aber eine Benachteiligung primär ambulant agierender Unternehmen wie uns.“
Fast noch mehr stört sich Tietz daran, dass der MVZ-Antrag der drei Bundesländer den Zulassungsverzicht entfallen lassen will: „Wenn jeder Arztsitz durch den Entfall des Zulassungsverzichts gemäß § 103 Abs. 4a SGB V in jedem Fall immer wieder neu ausgeschrieben werden müsste, würde der Aufbau von hybriden Versorgungsansätzen wie unserem extrem erschwert. Das hätte vor allem auch negative Folgen für viele Ärztinnen und Ärzte, denn ihnen wird praktisch die Möglichkeit genommen, in ein Angestelltenverhältnis in ein MVZ zu wechseln. Außerdem bekommt jede Art von größeren Arztpraxen Probleme, wenn jeder Arztsitz automatisch neu ausgeschrieben werden muss, sobald ein Arzt in Rente geht.“
Für den Ökonomisierungsfreund Hildebrandt ist die ganze derzeitige MVZ-Diskussion nur ein weiteres Beispiel dafür, was grundsätzlich schief läuft im deutschen Gesundheitswesen. Den Betreibern und Investoren macht er keine Vorwürfe, wohl aber denen, die Anreize falsch setzen – der Politik, aber auch den Kassenärztlichen Vereinigungen (KV): „Wenn in einem Industriezweig Extraprofite erwirtschaftet werden können, dann wird das Geld dorthin fließen, wo solche Extraprofite erwirtschaftet werden können. Solange wir unser System so organisieren, dass Extraprofite in bestimmten Teilbereichen der ambulanten Versorgung entstehen können, wird genau dieser Effekt eintreten. Der Punkt ist: Die KVen bestimmen dieses System, und sie könnten es ändern. Was machen sie stattdessen? Sie rufen ‚Haltet den Dieb‘.“
Dass eine geographische Begrenzung auf Seiten der MVZ-Betreiber in irgendeiner Weise zielführend sein könnte, glaubt Hildebrandt nicht: „Wenn, dann würden nur neue Fehlanreize produziert. Schon heute ist es ein klarer Fehlanreiz, dass MVZ einen Träger haben müssen, der entweder Krankenhaus oder Arzt ist. Was passiert denn dann? Auf einmal werden Krankenhäuser erhalten, um MVZ gründen zu können. Das ist doch Wahnsinn. Wenn der Radius auf 50 km beschränkt würde, würden noch mehr Kleinstkrankenhäuser erhalten werden. Das private Kapital wird schon einen Weg finden, um seine Extraprofite zu organisieren.“
Aus Sicht der KVen sieht die Situation natürlich etwas anders aus: Sie wollen den einzeln arbeitenden, freiberuflichen Arzt schützen und ihm ein angemessenes Einkommen gewähren. „Aber indem sie das tun, ermöglichen sie den Mengenproduzenten Extraprofite“, so Hildebrandt. „Das fing an in der Labormedizin, ging weiter über die Radiologie, die Augenheilkunde, jetzt die Zahnmedizin.“ Der Ausweg besteht für den Gesundheitsmanager nicht darin, immer stärker und immer feingranularer zu regulieren. Der Ausweg sei, die Sektorendenke zu überwinden, regionale und hybride Versorgungsmodelle zu ermöglichen – und letztlich die Produktion von Gesundheit, nicht die Erbringung von Leistungen, zur zentralen Währung zu machen.
Das freilich würde erfordern, politisch anzuerkennen, dass die Entökonomisierungsdiskussion in eine Sackgasse führt. Es sei denn, das langfristige Ziel ist ohnehin die Staatsmedizin, wie immer mehr Beobachter argwöhnen. In diesem Fall könnten Pseudodiskussionen wie die derzeitige unter Umständen politisch helfen. Denn sie führen dazu, dass dringend nötige Versorgungsinnovationen (noch) weiter ausgebremst werden mit der Folge, dass das bestehende System immer mehr Menschen als immer insuffizienter erscheint. Irgendwann kann der Staat als Retter in der Not auftreten. Und wenn sich herausstellt, dass er diesem Anspruch nicht gerecht wird, sind längst andere in politischer Verantwortung. Aber dann ist das Kind im Brunnen.
Bildquelle: Elena Mozhvilo, unsplash