Bei der Behandlung von Obstipation sind sich zwei aktuelle Leitlinien nicht ganz einig. Was ihr euren Patienten raten könnt, wenn es mit dem großen Geschäft nicht klappt, lest ihr hier.
Die Deutsche Gesellschaft für Gastroenterologie, Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten (DGVS) hat 2022 ihre aktualisierte Leitlinie zur Obstipation vorgelegt. Die American Gastroenterological Association zieht jetzt nach und publiziert ihre Empfehlungen zum pharmakologischen Management idiopathischer Obstipation. Der transatlantische Dissens bei verstopften Gedärmen ist vergleichsweise gering. Hier kommt unser Destillat.
Generell empfehlen die Leitlinien, bei Obstipation mit allgemeinen Lebensstilmaßnahmen zu beginnen, speziell Trinkmenge auf 1,5 bis 2 Liter erhöhen und körperliche Aktivität intensivieren. Im nächsten Schritt kommen dann Over-the-Counter-Präparate zum Einsatz und hier stehen die Ballaststoffe an erster Stelle. So richtig überzeugt sind die Leitlinien davon allerdings nicht. Die Therapie sei immerhin leicht umzusetzen, verursache geringe Kosten und habe ein geringes Risiko schwerer unerwünschter Ereignisse, so die DGVS. Begeisterung klingt anders.
Die US-Amerikaner geben den Ballaststoffen in der Breite eine „conditional“-Empfehlung, zu Deutsch: kann man machen, muss man nicht. Am besten sei die Datenlage für Psyllium (Flohsamen), das zu den löslichen Ballaststoffen zählt. Dazu lägen immerhin drei randomisierte Studien aus den 80er und 90er Jahren vor, wobei die mit 22, 35 und 201 Teilnehmern nicht riesig waren. Aber hey, bei Ballaststoffen ist man froh, wenn man überhaupt was findet. Das ebenfalls lösliche Polysaccharid und Präbiotikum Inulin hat zwei RCTs im Lebenslauf. Von deren Endpunkten sind die US-Amerikaner allerdings wenig beeindruckt: „Wir sind sehr unsicher, was die Effekte von Inulin angeht.“ Das gilt analog für den unlöslichen Ballaststoff Weizenkleie, der in einer randomisierten Studie mit beeindruckenden 29 Patienten in Italien untersucht wurde. Über Effektivität lasse diese Studie keine Aussage zu und auch bei der Randomisierung gebe es Fragezeichen.
Zu Pro-, Prä- und Synbiotika sagen die US-Amerikaner vorsichtshalber gar nichts. Die Deutschen sind traditionell Mikrobiom-affiner, entsprechend findet sich zu dieser Präparateklasse ein Kapitel in der deutschen Leitlinie. Man merkt der Empfehlung 6-1A an, dass versucht wurde, so zurückhaltend wie möglich zu formulieren, um den Pro-, Prä- und Synbiotika-Freunden gerecht zu werden, ohne sich angreifbar zu machen: „Können bei funktioneller chronischer Obstipation versucht werden“, heißt es.
Wir erreichen die Gefilde mit etwas mehr Evidenz. Das osmotische Laxans Makrogol (Polyethylenglykol, PEG) wird auf beiden Seiten des Atlantiks als Mittel der Wahl jenseits der Ballaststoffschwelle gesehen. Vergleichsweise zahlreiche Studien bringen die US-Amerikaner dazu, die Evidenz hier als zumindest moderat einzuschätzen, die Empfehlungsstärke ist „stark“. Die DGVS gibt ebenfalls eine starke „Sollen-gegeben-werden“-Empfehlung, die es auch in den Kanon der Klug-Entscheiden-Empfehlungen der DGIM geschafft hat.
Jenseits von PEG gibt es kleinere Unterschiede dies und jenseits des Atlantiks. Lactulose und andere Zuckeralkohole erhalten in Deutschland eine etwas gequält formulierte „Sollten-erwogen-werden“-Empfehlung in starkem Konsens. Wer nicht zumindest kurz dran denkt, handelt gegen die Leitlinie, sozusagen. Ein klares Nein erhält Paraffinöl wegen der Gefahr von Lipidpneumonien und Mikroaspiration sowie Resorptionsstörungen bei fettlöslichen Vitaminen. Das salinische Magnesiumhydroxid sei wirksam, so die DGVS, sollte aber wegen unerwünschten Wirkungen „eher nicht“ eingesetzt werden. Die US-Amerikaner sind dem Magnesium gegenüber etwas offener, sie geben eine Kann-Empfehlung, weisen aber auf sehr niedrige Evidenz hin. Lactulose erhält in den USA ebenfalls eine Kann-Empfehlungen, bei der nicht ganz klar ist, ob sie nun stärker oder schwächer ist als die deutsche „Sollte-erwogen-werden“-Empfehlung.
Auch die pflanzlichen Anthrachinone (z.B. Senna) erhalten in der deutschen Leitlinie die sehr weiche "sollte erwogen werden" Empfehlung. Eine traditionelle Laxanzien-Gruppe mit starker Empfehlung sind dagegen die Triphenylmethanderivate, konkret Bisacodyl und Natriumpicosulfat. Hier gibt es eine klare „Sollte“-Empfehlung der DGVS, ergänzt um die im starken Konsens ausgedrückte Empfehlung, dass (wie auch bei PEG) eine Begrenzung des Einnahmezeitraums unbegründet sei. Die US-Amerikaner geben sich hier etwas datennäher und weisen darauf hin, dass die Studie eine starke Empfehlung nur für bis zu vier Wochen rechtfertigte, darüber hinaus könne zu Toleranzentwicklung und Nebenwirkungen auf Basis existierender Studien nicht viel gesagt werden. Was Senna angeht, sind die Amerikaner analog zu den Europäern zurückhaltender als bei den Triphenylmethanderivaten: Es gibt ein "we suggest" auf Basis von nur einer einzelnen randomisierten Studie.
Gute Effektivitätsdaten gibt es für den prokinetischen 5-HT4-Agonisten Prucaloprid, dem die DGVS entsprechend eine starke Empfehlung gibt, gekoppelt allerdings an den Hinweis, dass zunächst weniger pharmakologisch aggressive Maßnahmen – sprich Ballaststoffe und traditionelle Laxanzien – ausgeschöpft werden sollten. Daten gibt es auch für andere 5-HT4-Agonisten, die in Deutschland aber teilweise nicht verfügbar sind. Die US-Empfehlung ist nahezu gleichlautend, auch hier ist Prucaloprid eine Zweitlinientherapie bei ausgeprägten Beschwerden mit starker Evidenz. Darauf hingewiesen wird, dass Daten für einen Zeitraum bis 24 Wochen vorliegen, die Zulassung aber keine zeitliche Begrenzung enthalte. Nebenwirkungen sind relevant, am wichtigsten Kopfschmerz, Bauchschmerz, Übelkeit und Durchfall.
Schließlich und abschließend beschäftigen sich die beiden Leitlinien mit den Sekretagoga, die eine Wasser- und Chlorid-Sekretion ins intestinale Lumen bewirken, entsprechend das Stuhlvolumen steigern und den Stuhl weicher machen. Die Substanzgruppe umfasst die beiden Guanylatzyklase-C-Agonisten Linaclotid und Plecanatid, außerdem den Chlorid-Kanal-2-Aktiviator Lubiproston. Linaclotid ist in Europa für obstipations-prädominantes Reizdarmsyndrom zugelassen, wird aber in Deutschland nicht erstattet, nachdem ein Nutzenbewertungsverfahren 2013 keinen Zusatznutzen fand – im Wesentlichen, weil die Studien keine geeigneten zweckmäßigen Vergleichstherapien hatten. Der Hersteller hatte daraufhin 2017 das Präparat außerhalb der Packungsgrößenverordnung auf den Markt gebracht, was eine reguläre Kostenübernahme verhindert.
Die DGVS sieht die Wirksamkeit von Linaclotid als belegt und verweist auch auf das günstige Sicherheits- und Verträglichkeitsprofil, das damit zusammenhänge, dass Linaclotid „nahezu gar nicht“ resorbiert werde. Trotzdem wurde die Empfehlungsstärke wegen der Einschränkungen bei der Verfügbarkeit sowie der fehlenden Zulassung für chronische Obstipation von „soll“ auf „sollte“ herabgesenkt. Plecanatid ist in Deutschland nicht zugelassen, es erhält eine „Kann“-Empfehlung. Lubiproston erhält ebenfalls eine „Kann“-Empfehlung, es ist nur in der Schweiz zugelassen.
Die US-Amerikaner sehen das ähnlich: Dreimal „Kann“ mit niedriger (Lubiproston) bzw. moderater (Linaclotid, Plecanatid) Evidenz gibt es für die Sekretagoga-Fraktion. Während Linaclotid wegen der geschilderten Zulassungs- und Verfügbarkeitsproblematiken im DGVS-Stufenschema erst auf Stufe 4 landet, und damit hinter Prucaloprid auf Stufe 3, sind die beiden Substanzen bzw. Substanzklassen in der US-Leitlinie gleichwertig.
Wer genau ist eigentlich verstopft? Blöde Frage, denkt sich der Betroffene, der auf der Toilette sitzt. Aber dennoch: Wer datenbasiert kommuniziert und empfiehlt, muss auch transparent machen, worüber er redet. Die DGVS tut das gleich im allerersten Statement ihrer Leitlinie. Chronisch obstipiert ist, wer seit mindestens drei Monaten mindestens zwei der folgenden Symptome aufweist:
Bildquelle: Konstantin Volke, Unsplash
Anmerkung: Der Artikel wurde am 11.7.2023 geringfügig modifiziert. Die ursprüngliche Version hatte nicht zwischen Bisacodyl/Natriumpicosulfat einerseits und Anthrachinonen andererseits differenziert, was beide Leitlinien aber tun. Bisacodyl/Natriumpicosulfat erhalten in beiden Leitlinien die stärkere Empfehlung. Dies wurde oben im entsprechenden Absatz ergänzt.