„Ich nehme eher zu als ab, dabei gehe ich doch jeden Tag 10.000 Schritte!“ Viele Patienten sind verzweifelt, wenn ihnen der eigene Körper nicht gehorcht. Ich erkläre diesen Widerspruch am Beispiel von Bären.
Wie viele andere Mediziner auch hatte ich in der Oberstufe einen Biologie-Leistungskurs. Wie funktioniert eine Zelle, welches Gen macht was – all diese Themen fand ich absolut faszinierend. Für mich damals die uninteressantesten Themen: Evolution (die Darwinschen Finken) und Ökologie. Mit dieser Einschätzung war ich in unserem Biokurs auch nicht die Einzige. Vor allem Ökologie galt in unserer Schule als „Laberfach“, in dem man einige wenige klare Beziehungen hatte („Tier A frisst Pflanze B, wenn Pflanze B weg ist, stirbt Tier A“), aber ansonsten wirkte alles mehr nach einem heillosen Durcheinander.
Ich weiß gar nicht, wann meine Einstellung dazu gekippt ist, aber heute finde ich es extrem faszinierend, wie Dinge zusammenhängen (wobei das sicherlich eine Mischung aus ökologischer und evolutionärer Sicht ist). Und nicht nur faszinierend, sondern auch extrem wichtig, weil auch immer deutlicher wird, dass wir mit dieser Konzentration auf ganz einzelne Aspekte (z. B. ein einziges Gen) bei vielen großen gesellschaftlichen Problemen (wie z. B. Adipositas) sehr schnell an Grenzen stoßen. Es gibt (entgegen früheren Hoffnungen) kein „Adipositas-Gen“, aber definitiv wichtige Aspekte des gesellschaftlichen Ökosystems, die mit dazu beitragen.
Dafür wird in den letzten Jahren immer deutlicher, wie wichtig unser körpereigenes Mikrobiom (also wir selbst als eigenes Ökosystem) ist. Viele unserer Medikamente (z. B. Antibiotika, PPI) greifen in das Mikrobiom ein und haben dort oft unerwünschte Folgen, indem sie zum Beispiel auch Bakterien fördern können, die zu Adipositas beitragen oder sogar die Wirkung von Medikamenten negativ beeinflussen. Und dann habe ich noch gar nicht erwähnt, was unsere Medikamente mit unserer Umwelt machen (und wie wir sie dann wieder aufnehmen, z. B. über Trinkwasser). All das sollten wir bedenken, macht aber die Entscheidungsfindung komplexer, weil es keine einfache Lösung gibt („Im Zweifelsfall Antibiotika – schadet ja nicht“, wie es früher oft hieß). Wir müssen wirklich unterschiedliche Aspekte mit einfließen lassen.
Andererseits ist es auch wichtig für uns, zu verstehen, wo einige Reaktionen des Körpers herkommen, damit wir besser darauf eingehen können. Für mich ein solcher Moment, wo ich nur dachte, „Ach, SO hängt das zusammen“ war ein Artikel zum Thema Fruktose und Bären. Es wird ja zunehmend über die Rolle von Fruktose in der Entstehung diverser Krankheiten (v. a. auch Adipositas, nicht-alkoholische Fettleber) diskutiert. Andererseits tut man sich auch schwer, einen Stoff, der ja durchaus natürlich vorkommt, zu verdammen. Also warum sollte Fruktose so viele Probleme machen?
Die Erklärung (anhand von Bären vereinfacht dargestellt): Wenn Bären immer nur so viel gegessen hätten, wie sie kurzfristig brauchen, hätten sie keinen Winterspeck ansetzen können und wären im Winter verhungert. Im Herbst gibt es aber große Mengen fruktosehaltiger Lebensmittel (= Obst) und die Fruktose aus diesen Lebensmitteln sorgt im Bären-Körper dafür, dass er sich für den Winter Speck anfrisst, indem das Sättigungshormon gebremst und die Lipogenese gefördert wird. Dann kommt der Winter, es gibt keine Fruktose mehr, aber der Bär hat (hoffentlich) genug angesetzt, dass er im Frühjahr wieder normal fressen kann. Für mich ist das eine sehr einleuchtende Erklärung, auch wenn wir keinen Winterschlaf halten. Früher war es sinnvoll, im Herbst vermehrt Fett anzusetzen. Das Problem der heutigen Gesellschaft wäre demnach dann die dauernde Verfügbarkeit von Fruktose. Denn dadurch würde ein eigentlich sinnvoller Mechanismus des Körpers uns heute Probleme machen, weil einfach noch nie in der Geschichte der Menschheit Fruktose so universell verfügbar war.
Seit ich diese Erklärung gelesen habe, erkläre ich sie auch meinen Patienten so, wenn ich z. B. im Ultraschall eine Fettleber sehe oder mir ein Patient sagt: „Ich verstehe es nicht, ich nehme eher zu als ab und dabei laufe ich doch 10.000 Schritte am Tag.“ Vielen scheint diese Erklärung zu helfen. Das Gewicht ist dann nicht nur der „dumme Körper“, der nicht „gehorcht“, sondern es ist quasi ein Missverständnis zwischen Umwelt und Körper. Und mehrere haben mir bereits gesagt, dass sie damit deutlich besser abnehmen konnten. Die Frage wird (wie immer) sein, ob das langfristig so bleibt – aber ich finde es einen deutlich besseren Ansatz als einfach nur eine Kalorienrestriktion zu empfehlen, die fast nie zum Erfolg führt.
Das große Problem dieser ökologisch/evolutionären Sichtweisen: Sie klingen häufig nach „Auf die Bäume, ihr Affen!“ oder „Wir müssen die Zeit zurückdrehen“. Das meine ich damit aber gar nicht. Nein, auch ich möchte nicht auf diverse Vorteile der heutigen Zeit verzichten. Aber ich glaube schon, dass wir uns klar machen müssen, wo solche Wechselwirkungen – die mal sinnvoll waren – heute ins Leere laufen oder uns gar krank machen. Und dann gesellschaftlich überlegen, wie wir das besser hinbekommen. Allein so etwas Simples wie Schmerzmittelgel mit Papier abwischen und dann in den Müll und nicht abwaschen, damit es nicht im Abwasser landet.
Natürlich eröffnen diese Sichtweisen auch Diskussionen darüber, ob Fruktose in der Menge immer verfügbar (und beworben) sein SOLLTE – auch weil da durchaus finanzielle Interessen bestehen, die aktuelle Ernährungsform beizubehalten. Doch wenn wir das Gesundheitssystem bezahlbar halten und unser medizinisches Personal vom kollektiven Burnout bewahren wollen, werden wir dafür sorgen müssen, dass alle gesünder bleiben. Dafür brauchen wir Wissen – und zwar darüber was wie und warum zusammenhängt. Also bitte gern mehr dieser Ansätze, damit wir wirklich verstehen, was passiert und wie wir danach handeln.
Denn: Verstehen heißt heilen. – Alfred Selacher
Bildquelle: Donna Ruiz, Unsplash