Schon Kinder und Ungeborene im Mutterleib können einen Schlaganfall erleiden. Pro Jahr sind 300 bis 500 Kinder betroffen. Die Stiftung Deutsche Schlaganfallhilfe geht sogar von einer deutlich höheren Dunkelziffer aus, denn viele Fälle werden nicht oder sehr spät diagnostiziert.
„Schlaganfälle treten bei Kindern ähnlich häufig auf wie Leukämie, trotzdem ist das Phänomen immer noch zu wenig bekannt“, sagte Ronald Sträter vom Universitätsklinikum Münster dem Nachrichtenmagazin STERN. Im Rahmen der ESPED Studie (Erhebungseinheit für seltene pädiatrische Erkrankungen in Deutschland) wurden bisher rund 815 Kinder mit Apoplexie untersucht. Seit 1996 sammelt ein Team um die Pädiaterin Prof. Dr. Ulrike Nowak-Göttl der Universitätskinderklinik Münster und PD Dr. Ronald Sträter die Daten von Patienten bis 18 Jahre, die in Deutschland einen Schlaganfall erlitten. Betroffen ist überwiegend die linke Großhirnhemisphäre, etwa 60 Prozent der Schlaganfälle bei Kindern sind dort angesiedelt. Jeder vierte Apoplex ist in der rechten Hemisphäre und knapp jeder zehnte im Versorgungsgebiet der Vertebralarterien lokalisiert.
Viele Schlaganfälle bei Kindern werden gar nicht oder erst sehr spät bemerkt, weil Ärzte selten mit der Möglichkeit eines Apoplexes bei so jungen Menschen rechnen. Außerdem sind klassische Warnsymptome wie Sprach-, Bewusstseins- oder Sehstörungen bei sehr kleinen Kindern außerordentlich schwer festzustellen. Indizien sind Krampfanfälle oder später auftretende halbseitige Lähmungen bei Neugeborenen. Ein Drittel der Betroffenen hat bereits in utero einen Schlaganfall bekommen. Bei etwa 80 Prozent der Kinder bis zum Alter von zwei Jahren zeigt sich ein Schlaganfall mit epileptischen Anfällen und einer Hemiparese.
Die Ursachen für einen Insult im Kindesalter sind vielfältig. Ursache Nummer eins sind Herz- und Gefäßerkrankungen. Hypertonie und Arteriosklerose sind im Gegensatz zu erwachsenen Patienten eher selten. Bei jedem zweiten Kind liegt eine angeborene Neigung zu viskosem Blut vor. Eine Faktor-V-Mutation erhöht das Risiko etwa um das Vierfache. Liegen zwei Gerinnungsanomalien gleichzeitig vor, ist das Risiko schon etwa dreißigfach erhöht. Bei zehn Prozent der Kinder kommt eine Infektionen im Hals-Nasen-Ohren-Bereich in Betracht. Bei fast einem Drittel aller kindlichen Schlaganfälle ist die Ursache unbekannt. Über Vorhofseptumdefekte wie ein persistierendes Foramen ovale (PFO) können venöse Blutgerinnsel in den großen Kreislauf gelangen. In den vergangenen zehn Jahren hatten 48 Prozent der jungen Apoplex-Patienten derartige paradoxe Hirnembolien. Ein PFO allein ist bei einem Viertel der Bevölkerung vorhanden. Allein kann dieser Defekt jedoch die Insultgefahr kaum erhöhen. Faktoren, die das Risiko vergrößern, sind u. a. Gerinnungsstörungen, Thromboseneigung und größere Rechts-Links-Shunts bei normaler Atmung. Die Gefahr für paradoxe Embolien ist besonders groß, wenn zusätzlich zum PFO ein Vorhofseptumaneurysma vorliegt. Bei dieser Kombination ist die Insultrate im Vergleich zu gleichaltrigen Herzgesunden 33fach erhöht. In der Altersgruppe mit einem Schlaganfall zwischen dem 4. und 7. Lebensjahr haben zwei von drei Kindern durchschnittlich 4,1 Jahre nach dem Ereignis zumindest ein neurologisches Defizit. Bei den älteren Kindern waren es etwa die Hälfte. In Sachen Lebensqualität schnitten Kinder mit Schlaganfall durchweg schlechter ab als Kinder in Vergleichsgruppen, so die Ergebnisse der Analyse der Registerdaten.
Der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) wies unter Berufung auf eine Studie der Universitäts-Kinderklinik in Münster darauf hin, dass Windpocken die Ursache für einen Schlaganfall im Kindesalter sein können. Bewiesen ist es bei maximal fünf Prozent der kleinen Schlaganfallpatienten. Bei ihnen wurden Antikörper des Windpockenvirus im Liquor gefunden. Bei zehn Prozent der bisher untersuchten jungen Schlaganfallpatienten gibt es bisher den Verdacht auf einen Zusammenhang zwischen einer Windpocken-Erkrankung und einem Schlaganfall. Die Angaben gelten für Kinder, die älter als sechs Monate sind. Das Windpockenvirus verengt unter Umständen die Gefäße oder bildet Antikörper, die das Blut verdicken. Beides könne zum Hirninfarkt führen, so die bisherigen Vermutungen zur Pathophysiologie. Ob auch eine Windpockenimpfung das Apoplex-Risiko steigert, ist unklar. Die Ständige Impfkommission des Robert Koch-Instituts in Berlin (RKI) warnt vor einer Vernachlässigung der Kinderimpfung gegen Windpocken. Weitere Ursachen für einen Schlaganfall im Kindesalter sind:
Immerhin fünf bis acht Prozent der Kinder bekommen einen zweiten Schlaganfall. Prof. Nowak-Göttl, jetzt Gerinnungszentrum UKSH, sagt: „Deshalb rate ich dazu, Fastfood und Passivrauchen zu vermeiden, und empfehle dringend, dass sich die Kinder mehr bewegen.“ Die Rezidivrate paradoxer Hirnembolien beträgt vier Prozent pro Jahr, deshalb ist eine Ursachenklärung wichtig. Leider ist die Emboliequelle oft nicht nachweisbar. PFO und Vorhofseptumdefekte lassen sich mit moderner Ultraschalltechnik diagnostizieren, und die Patienten können mit Herzkathetern oder operativ behandelt werden. Umstritten ist der Nutzen einer medikamentösen Embolieprophylaxe. Cumarine haben viele unerwünschte Wirkungen, der Nutzen von ASS ist nicht ausreichend belegt.
Nach einem überlebten Schlaganfall leiden die Kinder nicht nur unter den körperlichen Ausfallerscheinungen. Sie haben in der Regel auch kognitive Störungen, versagen dadurch in der Schule und im Beruf. Wahrnehmungsstörungen tragen ebenfalls zu einer Verschlechterung der Lebensqualität bei. Dr. Monika Daseking vom Zentrum für Klinische Psychologie und Rehabilitation der Universität Bremen führt seit 2001 bei Familien eine umfangreiche Analyse durch, in denen ein Kind einen Schlaganfall erlitten hat. Verhaltensauffälligkeiten bei diesen Kindern sind eindeutig häufiger als bei Kindern, die keinen Schlaganfall erlitten haben. Knapp die Hälfte der Kinder zeigt Hinweise auf ein Aufmerksamkeitsdefizit, etwa ein Drittel auf eine Angststörung und jedes fünfte Kind auf eine affektive Störung. Die Verhaltensauffälligkeit lassen sich nicht immer kausal auf eine Hirnschädigung zurückführen. Durch die Schädigung und Funktionseinschränkungen kann sozialer Stress ausgelöst werden, der sekundär zu auffälligem Verhalten führt. Bei einer optimalen Förderung und sozialer Integration lässt sich dem vorbeugen. Daseking plädierte dafür, auch bei Kindern, die zunächst nur geringe funktionelle Symptome als Folge ihres Schlaganfalls zeigen, eine ausführliche psychosoziale Diagnostik durchzuführen. Die Förderung soll so früh wie möglich begonnen werden. Wichtige, förderungsintensive Phasen, sind u. a. die Phase des Spracherwerbs im Alter von zwei bis drei Jahren, die Einschulung, der Wechsel in eine neue Schulform im Alter von 10 bis 12 Jahren und der Einstieg ins Berufsleben. Die Schulen können natürlich nur dann adäquat fördern, wenn ihnen der Schlaganfall des Kindes bewusst ist. Auch der in den Landesschulgesetzen verankerte Nachteilsausgleich greift nur bei dokumentierten Schädigungen.