Der Nutzen einer doppelten Plättchenhemmung nach Schlaganfall und TIA ist für bestimmte Patienten durch Studien belegt. In der klinischen Realität werden aber Patienten behandelt, die in keine dieser Arbeiten eingeschlossen worden wären. Ist das schlimm?
Dass nach einem ischämischen Schlaganfall eine Dauertherapie mit ASS erfolgen soll, ist seit langem unumstritten. ASS ist ein Thrombozytenaggregationshemmer, der die Funktion der Blutplättchen stört und so die Entstehung von arteriellen Thromben verhindert, welche wiederum Schlaganfälle verursachen können. Zur Frage, ob eine noch stärkere Hemmung der Plättchenfunktion nach einem Schlaganfall sinnvoll ist, liefen in den Jahren 2013 bis 2020 drei größere Studien (CHANCE, POINT und THALES).
Untersucht wurde der Nutzen einer zeitlich begrenzten doppelten Plättchenhemmung bei selektierten Patienten nach TIA oder ischämischem Schlaganfall. Alle drei Studien lieferten positive Ergebnisse. Die Rate an Rezidiv-Schlaganfällen wurde signifikant gesenkt, das Risiko für schwerwiegende Blutungen stieg zwar auch signifikant an, insgesamt ergab sich aber ein überwiegender Nutzen. Aus diesem Grund hat die Empfehlung für eine kurzzeitige doppelte Plättchenhemmung, bei der zusätzlich zu ASS vorrübergehend mit Clopidogrel (CHANCE und POINT) oder Ticagrelor (THALES) behandelt wird, auch Einzug in die entsprechenden Leitlinien gefunden.
Die Studien hatten dabei strenge Einschluss- und Ausschlusskriterien. Es wurden nur Patienten nach einem „Minor Stroke“, also einem Schlaganfall mit milder Symptomatik, und nach einer Hochrisiko-TIA, also mit hohem Rezidivrisiko, eingeschlossen. Bei den Schlaganfällen wurde ein NIHSS von ≤ 3 (CHANCE und POINT) bzw. ≤ 5 (THALES) als Cutoff gewählt, bei den TIAs ein ABCD2-Score von ≥ 4 (CHANCE und POINT) bzw. ≥ 6 (THALES). Zudem wurden Patienten mit einer angenommenen kardioembolischen Schlaganfallursache sowie Patienten, bei denen eine Lysetherapie oder Thrombektomie durchgeführt wurde, ausgeschlossen. Die doppelte Plättchenhemmung musste außerdem kurz nach dem Ereignis begonnen werden (innerhalb von 12 Stunden bei POINT und innerhalb von 24 Stunden bei CHANCE und THALES).
Das medikamentöse Regime unterschied sich etwas zwischen den Studien. In der Regel wurde am ersten Tag mit einer „Loading Dose“ begonnen, um schnell einen therapeutischen Wirkspiegel zu erreichen, danach wurde mit der Standarddosis weitertherapiert. Die Doppeltherapie wurde dabei für 21 bis 90 Tage durchgeführt, danach wurde auf eine ASS-Monotherapie umgestellt. Der größte Nutzen zeigte sich dabei in den ersten 14 bis 21 Tagen.
Der Nutzen der Therapie wurde nur in dem beschriebenen, streng selektierten Patientenkollektiv untersucht. Die klinische Realität unterscheidet sich aber oft von Studienbedingungen. So ergab sich die Frage, ob im klinischen Alltag nicht viele Patienten, die die Einschlusskriterien der Studien nicht erfüllt hätten, ebenfalls mit einer doppelten Plättchenhemmung behandelt werden, ohne dass es dafür klinische Evidenz gibt. Dieser Frage geht die READAPT-Studie nach („Real Life Study on Short-Term Dual Antiplatelet Treatment in Patients With Ischemic Stroke or TIA“), von der jetzt erste Ergebnisse im Fachjournal Stroke veröffentlicht wurden.
Die Antwort ist eindeutig: Im klinischen Alltag wird ein deutlich breiteres Kollektiv mit der Doppeltherapie behandelt, als es in den Studien untersucht wurde. Für die READAPT-Studie wurden Patienten in 41 italienischen Krankenhäusern untersucht, die nach einem ischämischen Schlaganfall oder einer TIA eine doppelte Plättchenhemmung erhielten. Die Entscheidung, wer eine Mono- und wer eine Doppeltherapie erhielt, lag beim jeweiligen Behandler. Vor Studienstart erhielten die teilnehmenden Zentren sogar noch Online-Fortbildungen, bei der die Ärzte nochmals über die Studienergebnisse und die Leitlinienempfehlungen informiert wurden.
Insgesamt wurden 1.070 Patienten nach Schlaganfall oder TIA untersucht, bei denen sich die Ärzte für eine Doppeltherapie entschieden hatten. Von den Schlaganfallpatienten hatten 31 % einen NIHSS-Score > 3, wären also nicht in die CHANCE- und POINT-Studie eingeschlossen worden, bei 7 % lag sogar ein NIHSS > 5 vor. Bei den TIA-Patienten hatten 20 % einen ABCD2-Score < 4 und wären deshalb nicht eingeschlossen worden. 13,5 % der Patienten erhielten eine Lysetherapie oder Thrombektomie, eigentlich ebenfalls ein Ausschlusskriterium.
Ein Aspekt, der sich besonders stark zwischen den kontrollierten Studien und der Real-World-Kohorte unterschied, war der Zeitpunkt der Initiierung der medikamentösen Therapie: Bei 32 % erfolgte der Beginn mehr als 24 Stunden nach dem Indexereignis. Eine initiale „Loading Dose“ erfolgte, anders als in den Studien, nur in einer Minderheit der Fälle. 72 % erhielten kein ASS-Loading, 63 % kein Clopidogrel-Loading. Nimmt man alle Aspekte zusammen, erfüllten von den untersuchten Patienten nur 45 % die Zulassungskriterien für CHANCE, 24 % für POINT und 25 % für THALES. Oder anders ausgedrückt: Bei den meisten Patienten, die eine doppelte Plättchenhemmung nach Schlaganfall oder TIA erhielten, erfolgte dies ohne Evidenz.
Heißt das jetzt aber, dass die meisten Patienten falsch behandelt wurden? Nicht unbedingt, so die Autoren. Randomisierte kontrollierte Studien (RCT) sind ohne Zweifel der Goldstandard für die Untersuchung der Wirksamkeit von Medikamenten. Die Ergebnisse sind aber oft nicht 1 zu 1 auf den klinischen Alltag übertragbar. Das Zeitkriterium ist z. B. oft nicht einzuhalten, da sich viele Patienten nach einer TIA erst verspätet vorstellen und so die medikamentöse Therapie nicht innerhalb von 24 Stunden nach dem Ereignis begonnen werden kann. Ob diese Patienten auch von einer vorübergehenden doppelten Therapie profitieren könnten, ist wissenschaftlich nicht belegt, aber eben auch nicht widerlegt.
In der beschriebenen READAPT-Studie werden die Patienten auf klinische Endpunkte wie die Schlaganfall-Rezidivrate und Tod untersucht. Die Studie ist aber noch nicht abgeschlossen, bei der beschriebenen Analyse handelte es sich lediglich um eine Beschreibung der bislang eingeschlossenen Patienten. Somit lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt nur feststellen, dass im klinischen Alltag viele Patienten nach Schlaganfall oder TIA mit einer doppelten Plättchenhemmung behandelt werden, für die es keine Evidenz und auch keine Leitlinien-Empfehlungen gibt. Ob dies den Patienten schadet oder vielleicht sogar von Vorteil ist, wird sich erst in Zukunft zeigen.
Bildquelle: Muaz AJ, Unsplash