Zwei neue Gesetzentwürfe, ein kontroverser Gematik-Beschluss: In Sachen Digitalisierung legt Karl Lauterbach gerade den Turbo ein. Nicht jeden freuts.
Angekündigt waren sie für Anfang März, vorgelegt wurden sie Ende Juni. Die Rede ist von den Entwürfen des Digitalgesetzes (DigiG) und des Gesundheitsdatennutzungsgesetzes (GDNG) – den beiden digitalpolitischen Kernvorhaben des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) in dieser Legislaturperiode. Während das DigiG vor allem die digitalisierte Versorgung in den Blick nimmt, beschäftigt sich das GDNG mit der Forschung und der Analyse von personenbezogenen Gesundheitsdaten. Insbesondere das DigiG ist ausgesprochen umfangreich, sodass hier nur ein erster Einblick gegeben werden kann. Was sind die Highlights?
Das Kernthema des DigiG ist der viel diskutierte Wechsel von der bisherigen, in der real existierenden Versorgung quasi inexistenten elektronischen Patientenakte (ePA) der Krankenkassen hin zu einer „ePA für alle“, wie das BMG es formuliert.
Deren Kernmerkmal ist, dass sie von den Krankenkassen für alle Versicherten angelegt wird. Wer das nicht möchte, muss – Vorbild Österreich – aktiv widersprechen. Die neue ePA, deren Starttermin das DigiG ziemlich präzise auf den 15. Januar 2025 terminiert, kann von den Patienten über eine ePA-App auf dem Mobiltelefon eingesehen und mitgestaltet werden. Das ist aber nicht obligat. Wer einfach nur will, dass eine ePA genutzt wird, sich aber nicht weiter kümmern möchte, der hat diese Option auch. Wer sich kümmern möchte, kann über ein ePA Frontend, zum Beispiel eine ePA-App, Zugriffsberechtigungen erteilen und entziehen, Löschungen vornehmen, eine genaue Protokollierung der Zugriffe einsehen und vieles mehr.
Erste Anwendung der ePA soll ein elektronischer Medikationsprozess sein. Dieser wird in Form eines standardisierten medizinischen Datensatzes („MIO“) umgesetzt. Es enthält sowohl die Verordnungen der Ärzte und die Dispensierinformationen der Apotheken als auch den elektronischen Medikationsplan (eMP). Folgen soll, bisher ohne Terminierung, eine elektronische Patientenkurzakte. Sie wird einerseits angelehnt an die elektronischen Notfalldaten der Ärztekammern, anderseits an den internationalen, in diversen Ländern bereits eingesetzten Electronic Patient Summary Standard. Dritte Pilotanwendung sollen dann standardisierte Labordaten sein. Bei allen drei Anwendungen soll die Kassenärztliche Bundesvereinigung in Abstimmung mit allen Beteiligten die genauen Inhalte und Rahmenbedingungen festlegen.
Seitens der medizinischen Einrichtungen bringt die ePA eine ganze Menge an neuen Verpflichtungen mit sich. Denn sie soll nicht nur für alle Versicherten eingeführt, sondern auch obligat befüllt werden. Auf ambulant-ärztlicher Seite betrifft das zunächst die angesprochenen Medikationsdaten. Ziel sei es hier, die digitalen Verordnungen in den PVS-Systemen zu nutzen, um möglichst keine doppelte Dokumentation zu produzieren. Krankenhäuser wiederum sollen eine Plethora an Entlassdokumenten und -befunden einstellen, ebenfalls obligat bzw. solange der Patient nicht widerspricht. Einzig bei Untersuchungen nach Gendiagnostik-Gesetz erfordert die Speicherung in der ePA eine ausdrückliche Zustimmung des Patienten. Behandelnde Ärzte haben auf die ePA-Daten ein Quartal lang bzw. mindestens 90 Tage ab Kontakt Zugriff. Zusätzlich hat der Patient die Möglichkeit, nicht persönlich aufgesuchte Ärzte gezielt für einen temporären oder auch dauerhaften Zugriff freizuschalten.
Das DigiG äußert sich auch zum Thema medizinische Altdokumente auf Papier. Prinzipiell kann jeder Versicherte, der bei seiner ePA eine App nutzt, entsprechende Dokumente selbst digitalisieren und in die ePA einstellen. Nun soll die ePA aber auch ohne App funktionieren. Deswegen sieht der Gesetzentwurf eine freiwillige Digitalisierungsschleife über die Krankenkassen vor: Zweimal innerhalb von 24 Monaten nach ePA-Einführung sollen Versicherte das Recht haben, jeweils bis zu zehn Dokumente an eine bei der Krankenkasse einzurichtende Vertrauensstelle zu schicken, die die Dokumente dann digitalisieren und in die ePA einstellen soll.
Eng verknüpft mit dem Thema ePA ist der im § 137 f konkretisierte Auftrag an den Gemeinsamen Bundesausschuss, in Ergänzung zu den existierenden, analogen DMP Typ-1-Diabetes und Typ-2-Diabetes zwei neu strukturierte Behandlungsprogramme zu konzipieren, die stark digitalisiert arbeiten. Ziel dabei ist, dass digital erhobene Messwerte über die ePA zusammengeführt, ambulante telemedizinische Leistungen intensiv genutzt, digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) eingebunden und der elektronische Medikationsplan genutzt werden. Diese digitalen Behandlungsprogramme sollen die bisherigen Diabetes-DMP nicht ersetzen, sondern ergänzen: Patienten sollen künftig wählen können, ob sie konventionell oder digital gestützt versorgt werden wollen.
Telemedizin: Hier soll das DigiG gemäß Entwurf eine ganze Reihe an Neuerungen bringen. Die mengenmäßige Begrenzung der telemedizinischen Leistungen im EBM auf derzeit 30 Prozent soll gestrichen werden. Um Wildwuchs vorzubeugen, sollen die Partner der Bundesmantelverträge spätestens neun Monate nach Inkrafttreten des Gesetzes Vorgaben für die Sicherung der Versorgungsqualität von telemedizinischen Leistungen – Videosprechstunden und Konsilen – machen. Die Einbindung telemedizinischer Beratungen in DiGA soll möglich werden. Und es wird Apotheken ein Weg eröffnet, eine assistierte Telemedizin zu implementieren. Gedacht ist dabei an regionale Kooperationsszenarien zwischen Apotheken und Ärzten oder MVZs, bei denen in den Räumen der Apotheke telemedizinische Leistungen unterstützt von Apothekenmitarbeitern in Anspruch genommen werden können.
Der zweite Lauterbachsche Gesetzentwurf, das GDNG, zielt primär auf eine Erleichterung der Forschung mit realen Versorgungsdaten, die in Deutschland bekanntlich nur rudimentär möglich ist. Am BfArM soll eine neue Datenzugangs- und Koordinierungsstelle für Gesundheitsdaten eingerichtet werden, die eine anlassbezogene Zusammenführung von Versorgungsdaten aus unterschiedlichen Quellen für gemeinnützige und auch kommerziell getriebene Forschungsprojekte ermöglicht. Dafür wird auf Basis der Krankenversichertennummer ein (temporäres) Forschungspseudonym kreiert. Erster Anwendungsfall wird die Zusammenführung von Daten des beim BfArM angesiedelten Forschungsdatenzentrums und seiner Abrechnungsdaten mit den klinischen Krebsregisterdaten der Bundesländer sein.
Das GDNG bringt außerdem erweiterte Rechte für Auswertung von Abrechnungsdaten von Versicherten durch Krankenkassen. Kassen sollen künftig Versicherte automatisiert auf unterschiedliche Gesundheitsrisiken screenen dürfen - und die Versicherten dann ggf. gezielt mit der Empfehlung ansprechen, einen Arzt aufzusuchen. Gedacht ist u. a. an Arzneimittelinteraktionen, aber auch Risikokonstellationen für bestimmte chronische oder anderweitige Erkrankungen. In der Pandemie konnten in Ländern wie Israel Risikopatienten für COVID-19 von den Kostenträgern aktiv im Hinblick auf eine Impfung angesprochen werden. Das wäre in Deutschland rechtlich nicht möglich gewesen.
An diesem Vorhaben gibt es allerdings harsche Kritik unterschiedlicher Ärzteverbände. Die KBV bezeichnet die Pläne als „gruselig“, der Deutsche Hausärzteverband schließt sich dieser Einschätzung an. Schlechte Presse bei den ambulanten Versorgern kriegt auch die assistierte Telemedizin in Apotheken. Sie sei „unausgegoren“, so die Hausärzte.
Nicht unmittelbar mit den beiden Gesetzentwürfen verknüpft, aber ebenfalls digitalpolitisch wichtig ist die Entscheidung der Gematik, beim E-Rezept den bundesweiten Rollout einzuleiten statt, wie bisher vorgesehen, einen regional gestuften Rollout durchzuführen. Hintergrund ist, dass die Einlösung des E-Rezepts per eGK ab Juli möglich sein wird, sofern die jeweiligen Primärsystemhersteller von Ärzten und Apotheken das auch entsprechend umsetzen. Damit stehen drei Wege der E-Rezept-Übermittlung an die Apotheken zur Verfügung, die E-Rezept-App der Gematik, der Papierausdruck eines Datamatrix-Codes, der auf den Ablageort des eRezepts verweist, und eben die eGK, die nicht als Transportmedium, sondern als Identifikationsmedium genutzt wird.
Die Entscheidung, den bundesweiten Rollout einzuleiten, haben die Gematik-Gesellschafter gegen die Stimmen der KBV getroffen. Die Gematik betont, dass bis Ende Juli ein Großteil der Apotheken die Einlösung per eGK unterstützen werde, sodass dem E-Rezept an dieser Stelle nichts mehr entgegenstehe. Zudem seien nahezu alle Arztpraxen technisch in der Lage, mit dem E-Rezept zu arbeiten. Das BMG hat zu dem Thema einen Frage-und-Antwort-Katalog erstellt. Eine verpflichtende bundesweite Einführung ist für den 1. Januar 2024 vorgesehen. Zuletzt hatte, wie berichtet, bereits die KV Westfalen-Lippe angekündigt, die Rezepteinlösung per eGK ab Juli zu pilotieren mit dem Ziel, den Ärzten ab Herbst den Umstieg aufs E-Rezept definitiv zu empfehlen.
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