Im Schnelldurchlauf soll im Bundestag über ein neues Gesetz zur Sterbehilfe abgestimmt werden – trotz massiver Kritik von Ärzten. Fachgesellschaften und BÄK sind sich einig: Das ist des Themas und der Menschen unwürdig.
Es gab einmal fünf Entwürfe für eine überarbeitete gesetzliche Regelungen zur Suizidbeihilfe – nach Änderungen und Zusammenlegungen sind es seit zwei Wochen nur noch zwei Varianten. Da ist eine „liberale“, deren Formulierung und Regelungen von Grünen-Politikerin Renate Künast sowie von FDP-Politikerin Katrin Helling-Plahr stammen. Sowie ein restriktiverer Entwurf, der aus der interfraktionellen Gruppe um Lars Castelluci (SPD) stammt. Gemein ist beiden Gesetzentwürfen, dass sie von einer geschlossenen Ärzteschaft abgelehnt werden. Mehr noch, Dr. Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer, sagte deutlich: „Wenn es so zu diesem Gesetz kommt, empfehlen wir unseren Kolleginnen und Kollegen, sich nicht an der Praxis zu beteiligen. Ich habe nicht den Eindruck, dass die Politik sich hier mit Fachfragen beschäftigt hat. Das ist in Hektik, Eile und Unkenntnis entstanden.“
Doch was empört die Ärzteschaft so? Neben der Tatsache, dass es nicht nötig sei, „eine solche Geschwindigkeit an den Tag zu legen und das Gesetz unbedingt am letzten Tag vor der Sommerpause in einer 90 Minuten-Debatte durchzuwinken“, entsprechen „beide Varianten einer rein juristischen Denkwelt“ ohne die Vielfalt an Patienten und Diagnosen oder auch die ärztliche Praxis mitzudenken. „Das hat so nicht den ausreichenden Grat an Ernsthaftigkeit, den es verdient hätte. […] Wir leisten so keine Hilfe für die Menschen mit großem autoaggressiven Potenzial zur Selbsttötung – das erkennt man auch anhand von Statistiken in unseren Nachbarländern. Es gibt keine zeitlichen Druck, nun ein Gesetz durchzupeitschen. Das wird sich kaum ändern“, kontert Reinhardt das Argument, dass die Zahl der Selbsttötungen damit zurückgehen könne.
Dass die geplanten Regelungen ihre Grundlage erst einmal im allgemeinen Persönlichkeitsrecht und der autonomen Selbstbestimmung sowie dem Recht auf selbstbestimmtes Sterben haben, mag die richtige Verankerung sein. Dass der Entwurf „durch Festlegung von Entscheidungskriterien für Ärztinnen und Ärzte sowie klaren Verfahrensregeln einschließlich einer Beratungspflicht […] einen ausgewogenen Ausgleich zwischen der Gewährleistung des Rechts auf selbstbestimmtes Sterben einerseits und dem Schutz der Autonomie Suizidwilliger andererseits schafft“, könne aber so nicht stehenbleiben.
Denn auch wenn es formulierte Kriterien gebe, ist der einzelne Hausarzt bzw. „Arzt des eigenen Vertrauens“ nicht automatisch der geeignete Sterbebegleiter. „Es ist bei weitem nicht so, dass Ärzte über ausreichend Qualifikation verfügen, um Medikamente und Instrumente zur Selbsttötung zu verabreichen. […] Ebensowenig qualifiziert allein das Vorliegen einer ärztlichen Approbation dazu, Suizidwünsche angemessen zu begegnen. Ärztliches Handeln ist von Verantwortung und einem Beziehungsgeschehen getragen und darf bei derart existenziellen Fragen nicht zur bloßen Dienstleistung und einem ‚Sterben nach Checkliste‘ degradiert werden“, so Heiner Melching, Geschäftsführer der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin.
Ein weiterer Punkt, der den Fachgesellschaften und Arztvertretern viel zu kurz kommt, ist die Patientenperspektive. „Es kann aus unserer Sicht nicht gelingen, die Anliegen schwerstkranker Menschen, einsamer Hochaltriger oder auch junger Menschen, die in einer Krise ihr Leben beenden wollen, in eine Rechtsnorm zu pressen“, spricht Melching die Bandbreite an Diagnosen an. Dass psychiatrische und psychotherapeutische Kompetenz in dem Gesetzentwurf nicht einbezogen sind und dies auch nicht verbindlich festgeschrieben wird, sei besonders vor diesem Hintergrund unverantwortlich.
„Im aktuellen Vorschlag fehlen konkrete Schutz und Hilfsangebote. Das ist eine gravierende Gefährdung für Menschen mit psychischen Erkrankungen. […] Im Jahr 2021 starben über 9.000 Menschen in Deutschland durch Suizid – die meisten im Zusammenhang mit einer psychischen Erkrankung. Auf jeden Suizid kommen 10 bis 20 Suizidversuche. Sehr häufig sind suizidale Menschen aufgrund einer schweren psychischen Erkrankung nicht in der Lage, diese Entscheidung frei und selbstbestimmt zu treffen. Sie brauchen medizinische Hilfe und sie müssen vor dem irreversiblen Schritt eines Suizides effektiv geschützt werden. Diese große Gruppe der schwer psychisch kranken Menschen darf nicht vergessen werden“, erklärt Prof. Andreas Meyer-Lindenberg, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde.
Insbesondere mit Blick auf die Patienten und ihre Diagnosen sei es zudem wichtig, den alles entscheidenden Begriff der freiverantwortlichen Eigenständigkeit konkreter und an die medizinische Diagnose gekoppelt zu betrachten. „Unstrittig ist, dass Menschen mit psychischen Erkrankungen eingeschränkt in ihrer Handlungsfreiheit sind. Dazu gehören viele Menschen in Lebenskrisen wie zum Beispiel bei Verlust des Partners, der Arbeit und so weiter – auch diese sind in ihrer freiverantwortlichen Eigenständigkeit eingeschränkt. Zudem sind diese Krisen nicht in drei Wochen aufzulösen“, beschreibt Prof. Reinhard Lindner, Leitung des Nationalen Suizidpräventionsprogramms, und führt damit ein grundlegendes Argument gegen den geplanten Ablauf zur Suizidhilfe an.
Laut Entwurf soll es möglich sein, dass nach einmaliger Beratung und einer Wartezeit von drei Wochen ein Suizidmittel verschrieben werden kann. Dass eine ergebnisoffene Beratung mit Ärzten, die keine ausgewiesene Expertise in dem Bereich haben, entfernt von der medizinischen Realität ist, weiß Reinhardt: „Eine Wartefrist von drei Wochen ist viel zu kurz, um eine Dauerhaftigkeit und Freiverantwortlichkeit zu untermauern.“
Dass es in den Gesprächen zudem keine qualitativen Kriterien gibt, mache diese ebenso zu Instrumenten mit bedingter Aussagekraft wie Bewertungen, denen lediglich eine durch Checklisten abgearbeitete Ratio zugrunde liegt. „Man muss sich mit den Emotionen der Personen auseinandersetzen – natürlich immer auf dem Boden der Freiwilligkeit. In den Anträgen passiert dies leider nicht. Dabei gibt es keinen Gedanken ohne Emotionen – erst recht nicht den Suizidgedanken. Handlungsalternativen rein sachlich aufzuarbeiten, hilft Suizidgefährdete nicht“, beschreibt Lindner. Gleichzeitig bedarf es insbesondere bei einer solchen Begleitung und Aufarbeitung mehr Zeit als drei Wochen. Letztlich Wartezeit abzusitzen, abgestempelte Zettel einzuholen und so nach einer Minimalfrist an todbringende Medikamente zu gelangen, führe in den Augen der Ärzte zu einer falschen Fokussierung.
„Wenn es leichter ist, sich über einen festgelegten Regelungsweg assistiert zu suizidieren als Hilfe und Unterstützung zum Weiterleben zu erhalten, wird die Möglichkeit zu einer selbstbestimmten Entscheidung über das eigene Leben eingeschränkt. Wir rechnen in diesem Fall mit einer deutlichen Zunahme vermeidbarer Suizide in Deutschland“, so Prof. Reinhard Lindner. Um die Entwicklung zu verhindern, dass Menschen mit Todeswunsch schnell und einfach an Tabletten oder Spritzen gelangen, gelte es Präventiv- und Hilfsangebote in der Breite anzubieten. Denn so wie die Entwürfe derzeit aussähen, würden „Ärzte zu Dienstleistern und Todeswunscherfüllern werden“, so Melching.
Unisono sehen die Ärzte einen politischen wie ärztlichen Auftrag in der Prävention und Aufklärung. Doch auch hier müsse unterschieden werden – so wäre ein Ausbau der Suizidihilfe ohne Qualifikation der ärztlichen Seite nicht ausreichend. Würde diese Struktur allein ausgebaut, rechne man mit 20 bis 30 Selbsttötungen auf 100 Anfragen. Auch wenn dies zweifelsohne ein Erfolg ist, könnte diese Zahl bei ärztlicher, therapeutischer Begleitung auf zwei bis drei Suizide gesenkt werden. Gleichzeitig müssen Ärzte in dem Thema geschult und weitergebildet werden, um sich des Themas anzunehmen.
„Die gesetzlich finanzierten Beratungsstellen, die in diesem Entwurf vorgesehen sind, helfen Menschen nicht in suizidalen Krisen zu einer freiverantwortlichen und selbstbestimmten Entscheidung zu kommen. Beratungen können nicht ergebnisoffen sein, wenn sie in einem Kontext zur Suizidhilfe stattfinden”, ergänzt Lindner. Zudem müsse man die Debatte auch wieder gesellschaftlich öffnen und den Fokus weg vom (assistierten) Suizid selbst nehmen und die Menge an Auswegen und Hilfen aufzeigen. Gleichzeitig muss man diese wissenschaftlich begleiten. „Wir erkennen in den Entwürfen keine Evaluationskonzepte, keine Begleitforschung. Auch die Diskussion und öffentliche Debatte hat trotz dauerhafter Stellungnahmen nie richtig stattgefunden“, so der Ärztepräsident.
Nicht zuletzt findet die seit 2020 ausbleibende Regelung einer strafrechtlichen Verfolgung nach assistiertem Suizid auch in den vorliegenden Entwürfen keine endgültige Klärung. Das Prozedere ist und bleibt in einer rechtlichen Grauzone. Das entscheidende unter Strafe gestellte Merkmal stellt dabei die sogenannte geschäftsmäßige Suizidassistenz dar. Der von Castelucci vorgelegte Entwurf möchte die gesamte Regelung erneut im Strafrecht verbieten – das jedoch hat das Bundesverfassungsgericht bereits zuvor für unzulässig erklärt. „Für Ärztinnen und Ärzte bringt der Gesetzentwurf zudem erhebliche strafrechtliche Risiken mit sich“, fasst Reinhardt zusammen und rät seinen Kollegen sehr deutlich, nach aktuellem Stand nicht im assistierten Suizid oder gar der Sterbehilfe aktiv zu werden.
Letztlich bleibt also nicht nur die konkrete strafrechtliche Gefahr für Ärzte bestehen. Auch, dass die Entwürfe der nötigen Sachlichkeit entbehren und gesamtgesellschaftliche Fragestellungen (beispielsweise nach der Betreuung Angehöriger nach Suizid/Versuch) offenlassen, mache beide Entwürfe untragbar. Dass das Thema plötzlich mit unerwarteter Eile vorangetrieben werde, trage sein übriges zur Verstimmung bei. „Kein Gesetz wäre besser als eines von diesen beiden. Ich habe Bauchschmerzen bei den Entwürfen. Man hätte Ärzte mit einbinden müssen – das ist aber nicht passiert“, fasst Melching den Tenor zusammen.
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