Seit mehr als 100 Jahren kennen Ärzte Phagentherapien. Doch hierzulande unterliegen sie strengen Regeln – wo liegt das Problem?
Einmal mehr hat die Weltgesundheitsorganisation Alarm geschlagen. Laut WHO-Daten sterben pro Jahr weltweit 1,3 Millionen Menschen an Infektionen, weil Antibiotika nicht mehr richtig wirken. Das Robert Koch-Institut (RKI) nennt für Deutschland ca. 9.700 Todesfälle durch multiresistente Erreger. Bekannte Strategien setzen auf den rationalen Umgang mit Antibiotika und auf das Designen neuer Wirkstoffe. Doch es gibt noch eine weitere Möglichkeit: die Phagentherapie.
Es gibt zwar immer wieder Fallberichte, in denen Phagen erfolgreich bei Patienten eingesetzt wurden, aber es mangelt an medizinischer Evidenz. Die Ursache dafür seien vor allem die derzeitigen Richtlinien und Verordnungen, die eine Nutzung von Phagen in der EU und in Deutschland behindern. Zu diesem Schluss kommt ein Bericht des Büros für Technikfolgen-Abschätzung (TAB) beim Deutschen Bundestag, der diese Woche erschienen ist. Darin werden Anwendungsperspektiven, Innovations- und Regulierungsfragen bei Bakteriophagen in der Medizin und in der Land- und Lebensmittelwirtschaft diskutiert. Das TAB berät den Bundestag bei technisch-wissenschaftlichen Themen.
Zum Hintergrund: Bakteriophagen sind Viren, die auf Bakterien spezialisiert sind, aber keine Zellen anderer Organismen infizieren – daher der Name. Nach ihrer Entdeckung im Jahr 1917 lag es nahe, sie auch therapeutisch zu nutzen. Hier hat das Georgi-Eliava-Institut für Bakteriophagen, Mikrobiologie und Virologie in Tiflis, Georgien, Pionierarbeit geleistet. Während des Ersten Weltkriegs, noch mehr während des Zweiten Weltkriegs, galt es, Soldaten mit Infektionen zu versorgen. Antibiotika waren in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion – anders als in der westlichen Welt – recht begrenzt verfügbar.
Auch in Deutschland haben Phagen eine heute teils vergessene Rolle gespielt: Im Jahr 1939 brachten die Behringwerke das Präparat Dysentery-Polyfagin® gegen Shigellen-Infektionen auf den Markt. Kurz darauf folgte Typhoid-Polyfagin® gegen Salmonellen. Nach dem Krieg entwickelten Forscher in der DDR Intestolysin® gegen Typhus, Paratyphus, Ruhr sowie gegen pathogene E. coli. Und ab den späten 1950er-Jahren gewannen Phagentherapien durch zunehmende Probleme mit Resistenzen wieder an Bedeutung.
„Phagen wirken sehr spezifisch gegen ein bestimmtes Bakterium, was personalisierte Ansätze ermöglicht“, sagt Dr. Annika Claßen im Gespräch mit DocCheck. Sie forscht an der Uniklinik Köln; ihre Schwerpunkte sind Krankenhauskeime und Antibiotika-resistente Bakterien.
Zunächst identifizieren Ärzte Bakterien, gegen die sich Phagen richten sollen, etwa E. coli. Hier kommen Kulturmethoden oder molekularbiologische Techniken zum Einsatz. Es kann durchaus passieren, dass zwei Patienten mit unterschiedlichen Genotypen einer Bakterienart auch verschiedene Phagen benötigen. „Idealerweise würde man eine Kombination aus zwei bis drei Phagen vorziehen, um spätere Resistenzentwicklung zu verringern“, erklärt Claßen.
Bis zum Erregernachweis vergehen durchschnittlich zwei bis drei Tage. Anschließend testet das Labor, welche Phagen wirksam gegen das Bakterium sind. Claßen: „Bei einer fulminanten Sepsis oder akut verlaufenden Infektion würde man mit breit wirksamen Antibiotikatherapien starten; im Akuteinsatz spielt die Phagentherapie bisher keine Rolle. Die spätere Einleitung einer Phagentherapie wäre jedoch denkbar.“ Chronische Besiedlungen oder Infektionen z. B. durch resistente Erreger seien ein mögliches Einsatzfeld für Bakteriophagen.
Doch woher kommen Phagen eigentlich? Sie sind im Boden, im Wasser, im Abwasser, speziell in Kläranlagen, aber auch auf Pflanzen oder auf Tieren zu finden – und werden aus Umweltproben isoliert. Die größte Sammlung in Deutschland befindet sich an der Leibniz-Institut DSMZ GmbH (Deutsche Sammlung von Mikroorganismen und Zellkulturen).
Wenn Phagen benötigt werden, ist es möglich, Patientenisolate ins Ausland zu verschicken, etwa nach Belgien. Dort testen Labore, welche Phagen sich zur Therapie eignen könnten. „Dennoch ist die Anwendbarkeit aufgrund regulatorischer Hürden eingeschränkt“, so Claßen.
Neben diesem personalisierten Ansatz sind sogenannte „Phagen-Cocktails“ bekannt: eine Strategie, mit der Kollegen am Georgi-Eliava-Institut arbeiten. In den verfügbaren Mischungen befinden sich Phagen gegen unterschiedliche Bakterien. „Diese Cocktails können Sie in Apotheken in Georgien erwerben“, weiß Claßen. In Georgien seien diese ELIAVA-Apothekencocktails zugelassen. „Als Gefahr bleibt hier, dass sie nicht ausreichend auf das infektionsverursachende Bakterium ansprechen.“
Phagen gehören zu den biologischen Arzneimitteln. „Zur Zulassung bräuchten wir eigentlich eine GMP (Good Manufacturing Practice)-konforme Herstellung , verbunden mit zahlreichen Qualitätskontrollen und mit viel Dokumentation“, weiß Claßen.
In Deutschland ist das Fraunhofer-Institut für Toxikologie und Experimentelle Medizin (ITEM) an der GMP-Herstellung von Phagen beteiligt, etwa für Phage4Cure und PhagoFlow. Die Projekte schließen aber nur wenige Zielerreger inklusive gegen sie wirksame Bakteriophagen ein. Und das Leibniz-Institut DSMZ bekam als erstes Institut in Deutschland das GMP-Zertifikat für die DNA-Sequenzierung zur Identitätsprüfung therapeutischer Phagen.
Neben der GMP-Zertifizierung gibt es weitere Hürden. „Hinzu kommt, dass uns qualitativ hochwertige klinische Studien fehlen, die belegen, dass Phagen als Arzneimittel sicher und effektiv sind“, erklärt die Expertin. Ein Review zeigt zwar, dass Phagentherapien bei Infektionen unterschiedlicher Art zu hohen Heilungsraten geführt haben. Nur umfassen die eingeschlossenen Studien kleine Patientenpopulationen und sind oft nicht mit standardisierten Therapieprotokollen sowie randomisiert-kontrolliert durchgeführt worden. Außerdem wurden die Bakteriophagen nicht GMP-konform hergestellt.
„Für klinische Studien und perspektivisch für eine Zulassung brauchen wir GMP-konforme Produkte“, so Claßen weiter. „Da derzeit aber kaum GMP-konform hergestellte Phagen verfügbar seien, könnten Ärzte auch keine klinischen Studien in größerem Umfang durchführen.“
Unabhängig von Studien bleibt Ärzten die Möglichkeit, mit Bakteriophagen einen individuellen Heilversuch zu wagen. „Bei der Behandlung eines einzelnen Patienten, für die es keine nachgewiesenen Maßnahmen gibt oder andere bekannte Maßnahmen unwirksam waren, kann der Arzt nach Einholung eines fachkundigen Ratschlags mit Informierter Einwilligung des Patienten oder eines rechtlichen Vertreters eine nicht nachgewiesene Maßnahme anwenden, wenn sie nach dem Urteil des Arztes hoffen lässt, das Leben zu retten, die Gesundheit wiederherzustellen oder Leiden zu lindern“ so die Rahmenbedingungen laut § 37 der Deklaration von Helsinki.
Allerdings sind Ärzte voll haftbar, sollten unerwünschte Effekte auftreten. Die Anwendungen in Deutschland sind aktuell fast vollständig limitiert auf Heilversuche und Eigenherstellung (§ 13 Abs. 2b und § 20d Arzneimittelgesetz), wobei eine Eigenherstellung nach Arzneibuch sehr aufwendig und teuer ist.
„Ansätze wie in Belgien könnten daher auch in Deutschland eine gute Lösung sein“, sagt Claßen. Was steckt dahinter? Bei der sogenannten Magistrale (Magistralformulierung) verordnen Ärzte eine individuell angefertigte Phagentherapie. Spezialisierte Apotheker bereiten die Therapie vor, welche dann durch den Arzt verabreicht werden kann. Die Phagen werden im Queen Astrid Military Hospital (Brüssel) hergestellt, wenn auch nicht GMP-konform. Aber eine externe Qualitätsprüfung findet durch Sciensano statt, ein belgisches Forschungsinstitut in öffentlicher Hand.
Die Autoren des TAB-Berichts kommen zu dem Schluss, dass die Potenziale von Phagen stärker ergründet und genutzt werden sollten. Um das zu ermöglichen, sei es notwendig, Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten zu Phagen gezielter zu fördern und spezielle Zulassungsprogramme und wirtschaftliche Anreize zu schaffen. Langfristig sei aber vor allem eine Entwicklung der bisher unflexiblen rechtlichen Rahmenbedingungen nötig.
Es werden aber auch durchaus pragmatische Ansätze nach belgischem Vorbild für Deutschland diskutiert: Man verzichtet auf die GMP-konforme Produktion, definiert aber Herstellungs- und Qualitätskriterien, und arbeitet mit Magistralformulierungen über Apotheken und spezielle Zulieferer. „Das wäre sicher ein guter Mittelweg“, sagt Claßen.
Zusammen mit Kolleginnen und Kollegen arbeitet sie unter der Schirmherrschaft der Deutschen Gesellschaft für Infektiologie (DGI) e.V. an einer neuen Leitlinie. Die Veröffentlichung ist für 2024 geplant. Inhaltlich wird es nicht um Indikationen gehen, sondern um Rahmenbedingungen, wie Ärzte in Deutschland Phagentherapien regelkonform durchführen. Weitere Kapitel befassen sich mit offenen Fragen aus der Forschung. Claßen: „Ich hoffe, dass in den nächsten Jahren mehr Evidenz verfügbar sein wird, um eine Therapie-Leitlinie zu erstellen.“
Bildquelle: Loic Leray, unsplash