Ob Hustensäfte, Blutdrucksenker oder Antibiotika – knapp 500 Einträge zählt die Liste für Arzneimittel mit Lieferschwierigkeiten. Wie schlimm ist’s wirklich?
Der Schrei ist laut, die Empörung groß, wenn das nächste Medikament vor Lieferschwierigkeiten steht. Um dem vorzubeugen, wurde nun das wohlklingende Arzneimittel-Lieferengpassbekämpfungs- und Versorgungsverbesserungsgesetz (ALBVVG) verabschiedet. Es ist der Lauterbachsche Masterplan zur Sicherstellung der medikamentösen Versorgung der Bevölkerung. Ob er ausreicht, ist man sich nicht nur in der Politik uneins.
Rabattverträge aussetzen – zunächst bei Kinderarzneimitteln. Dies habe zur Folge, dass die Preise steigen und Lieferengpässe damit beseitigt würden; auch, weil die attraktiveren Preise die Marktzugänglichkeit erleichtern. „Wenn wir an den Kindern sparen würden, sei es nicht ethisch. Diese Gesellschaft kann sich das leisten, zumal Kinder es seien, die in der Corona-Pandemie zurückgesteckt hätten“, so die direkte Begründung des Gesundheitsministers.
Gleichzeitig sollen Rabattverträge grundsätzlich weiterhin möglich und verhandelbar sein, seien sie doch ein starkes Instrument in den Verhandlungen. Hier setzt das Gesetz an den Ausschreibungsbedingungen an, denn wer künftig als pharmazeutisches Unternehmen ebenjene Verträge abschließen möchte, muss eine Bevorratung von 6 Monaten garantieren. Wer dies nicht könne, erhält auch einen solchen Vertrag nicht.
Prof. Afschin Gandjour, Arzt und Gesundheitsökonom, fasst im Gespräch mit DocCheck zusammen: „Mit der sechsmonatigen Bevorratung für alle rabattierten Arzneimittel lassen sich nach meiner Analyse etwa 70 % der Lieferengpässe (bei rabattierten Arzneimitteln) verhindern. Für alle Generika inklusive der nicht-rabattierten wären es etwa 50 %. Die Gesamtkosten bei den Herstellern liegen nach meiner Berechnung im hohen dreistelligen Millionenbereich. Die Bevorratungspflicht hätte noch etwas besser austariert werden können. Wenn die Bevorratungsdauer für rabattierte Arzneimittel auf fünf Monate reduziert und stattdessen eine Bevorratungspflicht auch für nicht-rabattierte Arzneimittel eingeführt würde, könnten für dasselbe Geld voraussichtlich noch mehr Lieferengpässe verhindern werden.“
Dass die Kosten der Bevorratung bei der Industrie keine Freudensprünge auslösen, dürfte in der Natur der Sache liegen. Nicht fern liegt der Gedanke, dass sich ein Unternehmen, dass auf alternative Absatzmärkte ausweichen kann, ebenjene Verträge mit gekoppelten Bevorratungspflichten nicht eingeht. Doch das könnte man verhindern – Gandjour weiter: „Die Politik geht davon aus, dass die Unternehmen überschüssige Lagerkapazitäten haben, mit denen sie eine Bevorratung problem- und kostenlos durchführen können. Dabei liegen diese Kosten etwa bei 100–150 Millionen pro Monat. Wenn man hier keine finanzielle Kompensation bietet, dann kann es auch den gegenteiligen Effekt haben, dass sich die Unternehmen aus dem Markt zurückziehen.“
Neben der staatlichen Subvention gebe es jedoch auch andere Wege und Möglichkeiten zur Refinanzierung. „Wenn man die maximale Zuzahlung bei Medikamenten um 60 Cent erhöht – also von 10 Euro auf 10,60 Euro, dann könnte man die 3 Monate Bevorratung gegenfinanzieren. Bei 80 Cent könnte man auch 4 Monate bevorraten. Das ist nur ein Beispiel für einen neuen Weg, den man gehen könnte“, erklärt der auf Kosten-Nutzen-Analysen im Gesundheitswesen spezialisierte Ökonom. Gleichzeitig helfe jedoch kein einziges Preisinstrument, wenn ganz profan die Produktion unterbrochen wird. „Wenn die Produktion ausfällt, nützen auch höhere Preise kaum etwas. Klar, würden eventuell Warenströme nach Deutschland gelenkt, die vorher nicht kämen. Allerdings spielt man trotz einer solchen Erhöhung noch nicht in der europäischen Champions League – in der Schweiz würde selbst dann noch weiterhin mehr gezahlt werden.“
Ein weiterer Punkt, um Knappheiten zu vermeiden, ist die Rückholung und Konzentration der Produktion in Europa. Die globalen Lieferketten wieder aufzulösen und in europäischem Rahmen zu planen, sei jedoch ein langfristiges Projekt. Einen ersten Schritt geht Lauterbach nun mit der Vorgabe im Gesetz, dass Hersteller von Krebsmedikamenten und Antibiotika nachweisen müssen, dass 50 % ihrer gegenwärtigen Produktion in Europa stattfinde – auf lange Sicht verlagere sich so die Produktion von ganz allein. Welchen wirtschaftlichen Effekt und welche Auswirkungen auf die Sicherstellung der Versorgung das letztlich habe, ist jedoch kaum kalkulierbar. Auf der anderen Seite sollen die Krankenkassen gleichzeitig auch patentfreie Antibiotika einkaufen, die in der EU oder im europäischen Wirtschaftsraum produziert werden.
Konkreter und kurzfristiger soll ein „Frühwarnsystem zur Erkennung von drohenden versorgungsrelevanten Lieferengpässen“ helfen. Lauterbach zufolge werde es beim BfArM angesiedelt. Auch werde ein Beirat zur Bewertung der Versorgungslage eingesetzt. Grundlage für ein funktionierendes System sind Daten, mit denen Analysten beratend eingreifen und Empfehlungen aussprechen können – diese Daten und Befugnisse soll es nun geben.
„Damit wir künftig noch früher wirkungsvoll gegensteuern können, brauchen wir mehr Transparenz seitens der Pharmaindustrie. Deshalb haben wir schon vor zwei Jahren ein Projekt mit KI- und Big-Data-Ansätzen zur Vermeidung von Arzneimittel-Lieferengpässen auf den Weg gebracht. Einerseits wollen wir damit große Datenmengen zu Produktionskapazitäten und Herstellungswegen auswerten. Ziel ist es, Herstellungswege, Bedarfsprognosen, Produktionskapazitäten sowie Risikopotentiale möglichst lückenlos und weltweit abzubilden. Auf dieser Daten-Grundlage werden Maßnahmen zur Sicherung der kontinuierlichen Verfügbarkeit aller Komponenten im Herstellungsgeschehen entwickelt, um sich abzeichnende Veränderungen noch schneller erkennen zu können. Zum anderen sollen die so gewonnenen Erkenntnisse über Herstellungsstrukturen und Kapazitäten die Produktion wichtiger Wirkstoffe grundsätzlich stärken“, erklärt Maik Pommer, BfArM-Pressesprecher im Gespräch mit DocCheck.
Dass man auch im praktischen Alltag vom Liefer- und Engpass-Management überzeugt ist, bestätigen die Krankhausapotheken. „Wir unterstützen grundsätzlich die Erweiterung der Kompetenzen des BfArM und die Einführung eines Frühwarnsystems zu Arzneimittel-Lieferengpässen. Indem die erweiterten Informationsrechte des BfArM in Bezug auf die Lagerbestände bestimmter Arzneimittel in Krankenhausapotheken gezielt eingesetzt werden und auf Ausnahmen beschränkt sind, könnte dies einen wirksamen Ansatz darstellen, um drohende Lieferengpässen frühzeitig zu erkennen und ihnen entgegenzuwirken“, erklärt Christopher Jürgens, Geschäftsführer des ADKA, Bundesverband Deutscher Krankenhausapotheker, gegenüber DocCheck.
Gleichzeitig hat die Behörde bereits seit 10 Jahren einen Blick darauf, was in Deutschland benötigt wird oder nicht ankommt. Von Aspirin über Valsartan bis Metformin ist das Problem an sich kein neues. Gleichzeitig müsse man aber auch die Zahlen im rechten Licht sehen: „Welche Relevanz einzelne Meldungen haben, hängt natürlich vom Gesamtmarkt ab. Wenn es für ein bestimmtes Generikum beispielsweise 100 Zulassungen für unterschiedliche Stärken und Darreichungsformen gibt und davon 10 von Engpässen betroffen sind, muss sich daraus nicht zwingend ein Versorgungsproblem ergeben – obwohl es aktuell 10 gemeldete Lieferengpässe gibt. In anderen Fällen kann bereits ein einzelner Lieferengpass Folgen für die Versorgungssicherheit haben. Aktuell sind in Deutschland rund 500, teilweise wirkstoffgleiche Arzneimittel von Lieferengpässen betroffen – bei rund 100.000 zugelassenen Arzneimitteln insgesamt“, so Pommer.
Sowohl die engmaschigere Begleitung durch das BfArM als auch ein besseres Meldeverhalten führe dazu, dass Lieferengpässe, die vor einigen Jahren noch nicht gemeldet wurden, heute durchaus unter die freiwillige Verpflichtung zur Meldung fallen. Hinzu komme, dass es verschiedene Aspekte wie beispielsweise Sondereffekte zu beachten gibt. Dies könne statistisch gesehen zu Steigerungen führen, ohne dass dies einen wirkstoffübergreifenden Engpass bedeutet. Als Beispiel könne man die Valsartan-Problematik von 2018 heranziehen. „Echte Versorgungsengpässe entstehen im Vergleich zum gesamten Meldeaufkommen relativ selten. In den vergangenen Monaten war das etwa viermal der Fall, beispielsweise bei den Antibiotika für Kinder oder auch bei Tamoxifen. Das frühzeitig zu erkennen – wo ist es klinisch relevant, wo müsste man gegensteuern – ist Teil des Lieferengpass-Managements, das wir betreiben. Deshalb haben wir natürlich alle Meldungen genau im Blick und verfolgen diese engmaschig“, erklärt Pommer.
Dass die Behörde auf Grundlage ihrer Zahlen und Daten auch schnell handeln und unterstützen kann, zeigte sich zu Beginn des Jahres. „Ein gutes Beispiel war etwa Tamoxifen. Hier wurden die Marktzahlen, Bedarfe und verfügbare Kontingente ermittelt, um unmittelbar ein umfangreiches Maßnahmenpaket auf den Weg bringen zu können – darunter etwa der erleichterte Import, die zielgerichtete Beschränkung auf kleinere Packungen und Exportbeschränkungen. Diese und weitere Maßnahmen habe dann rasch zu einer akuten Verbesserung der Versorgungslage geführt.“
Zuletzt werden auch diejenigen in ihren Befugnissen gestärkt, die tagtäglich die Engpässe erklären und Kunden vertrösten müssen. So gelten für Apotheker künftig vereinfachte Austauschregeln. Sprich: Ist ein Arzneimittel nicht verfügbar, können Apotheken nun wirkstoffgleiche Alternativen ausgeben. Unter bestimmten Umständen soll zudem der Austausch zwischen öffentlichen und Krankenhausapotheken möglich sein. Dafür sollen Apotheken und Großhändler einen Zuschlag erhalten.
Die Apotheker selbst sind indes zwiegespalten ob der politischen Pläne: „Wir sehen einerseits, dass die Bundestagsabgeordneten den Belastungsstand in unseren Teams erkannt und anerkannt haben. Extrem bitter ist, dass die Bundesregierung nicht verstanden hat, dass die Apotheken vor Ort finanziell unterstützt werden müssen“, erklärt ABDA-Präsidentin Gabriele Regina Overwiening. Weitere Erleichterungen für die Apotheken sollen durch die Einschränkung der Nullretax sowie 50 Cent für das Engpass-Management geschaffen werden. Das Urteil der Apotheker zu letzterem ist dabei sehr deutlich: „Die nun beschlossenen 50 Cent für das Engpass-Management sind und bleiben eine Missachtung unserer Arbeit“, so Overwiening. Sie äußert Unverständnis, „dass der zuständige Minister Karl Lauterbach offenbar eher dazu bereit ist, Hunderte Millionen Euro in überflüssige Gesundheitskioske zu investieren.“
Auch die Regionalverbände der Apotheker äußern Bedenken, ob die Maßnahmen reichen und sehen schwierigen Zeiten entgegen. „Wir warnen schon seit zehn Jahren vor Arzneimittelengpässen – das ist ungehört verhallt. Und wir sehen auch jetzt kein Ende dieser schlimmen Entwicklung. Der Mangel betrifft viele Medikamente: Betablocker, Psychopharmaka, Insulin, Magenmedikamente“, sagt Thomas Preis, der Vorstandsvorsitzender des Apothekerverbands Nordrhein.
Ob ein allgemeines Umdenken – auch und vor allem bei Kunden und Patienten – nicht weiterhelfen könne, bleibt letztlich ein spannender Denkansatz. Dass in anderen Teilen der EU mit dem Thema Arzneimittel-Lieferengpässe anders umgegangen wird, weiß Gandjour: „Allgemein gibt es vielleicht auch Unterschiede in der Toleranz, was Lieferengpässe betrifft. In vielen europäischen Ländern ist das Thema zwar auch relevant, aber der Umgang damit, die Bereitschaft, auf Ersatzpräparate auszuweichen und auch die Zahlungsbereitschaft können grundverschieden sein. Es ist auch die Frage, welchen Standard man gewöhnt ist.“
Bildquelle: Dan Dumitriu, unsplash