Bei Multipler Sklerose werden die Myelinscheiden der Nervenfasern beschädigt. Forscher haben nun herausgefunden, dass Myelin nicht immer Schutz bietet, sondern das Überleben der Axone sogar gefährden kann.
Die Multiple Sklerose (MS) ist eine schwerwiegende neurologische Erkrankung mit zumeist bleibender Behinderung. Ein zentrales Merkmal ist der durch Autoimmunprozesse ausgelöste Verlust der Myelinscheide der Axone: Die Schutzschicht, die durch Oligodendrozyten ausgebildet wird. Bisher geht man bei der MS davon aus, dass Oligodendrozyten und Myelin durch Immunzellen abgebaut werden und die dann schutzlosen Axone aufgrund weiterer lokaler Entzündungsprozesse irreversible Schäden davontragen. Der Verlust von Axonen spielt letztlich eine entscheidende Rolle für die Erkrankungsschwere von Patienten und den Verlauf der Erkrankung.
Aktuelle Forschungsergebnisse eines Teams der Universität Leipzig und des Max-Planck-Instituts Göttingen deuten nun darauf hin, dass sich das Verständnis der Krankheit an dieser Stelle ändern muss. In der Studie konnten die Forschungsgruppen zeigen, dass das bisher als schützend angesehene Myelin das Überleben der Axone sogar gefährden kann. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn Myelinscheiden durch Immunzellen angegriffen wurden, aber weiterhin die Axone umhüllen und damit von der Außenwelt isolieren.
Oligodendrozyten sind nämlich nicht nur für die Bildung des Myelins zuständig. Sie leisten auch wichtige Unterstützungsfunktionen für den Energiestoffwechsel der Axone. Insbesondere myelinisierte Axone sind stark von metabolischer Unterstützung abhängig, da sie kaum eigenen Zugang zu Nährstoffen haben. Für die Unterstützung myelinisierter Axone durch eine Myelinscheide hindurch ist es erforderlich, dass die Architektur des Myelins intakt ist, einschließlich der engen Kommunikationskanäle zwischen Oligodendrozyten und Axonen.
„Wenn Oligodendrozyten einer akuten entzündlichen Umgebung ausgesetzt sind, könnten sie ihre unterstützende Funktion für die Nervenfasern verlieren und das Myelin wird zu einer Bedrohung für das Überleben der Nervenfasern“, beschreibt Prof. Klaus-Armin Nave vom Max-Planck-Institut für multidisziplinäre Naturwissenschaften in Göttingen die eingangs aufgestellte Forschungshypothese des Teams.
Um ihre Vermutung zu überprüfen, untersuchten die Forscher Gewebeproben von Patienten mit Multipler Sklerose und zusätzlich verschiedene Mausmodelle dieser Krankheit, um den Autoimmunangriff auf das Myelin experimentell nachzustellen. Dabei konnten sie erstmals in den Gewebeproben der Erkrankten nachweisen, dass die irreversible Schädigung fast immer in den noch mit Myelin ummantelten Axonen auftritt. Umgekehrt konnten die Wissenschaftler mit Hilfe von genetisch veränderten Mausmodellen zeigen, dass „nackte“ Axone in einer akuten entzündlichen Region des zentralen Nervensystems besser vor der Degeneration geschützt sind.
„Indem wir das vorherrschende Bild von Myelin als ausschließlich schützende Struktur hinterfragen, können wir ein tieferes Verständnis der Krankheit gewinnen und möglicherweise neue therapeutische Strategien entwickeln, um die Funktionalität der Nervenfasern zu bewahren“, erklärt Studienautorin Prof. Ruth Stassart. „Anstatt das geschädigte Myelin zu erhalten könnte es therapeutisch sogar besser sein, den schnellen Abbau zu fördern und die Neubildung von funktionsfähigem Myelin zu unterstützen“, ergänzt Wissenschaftler Dr. Robert Fledrich.
Dieser Text basiert auf einer Pressemitteilung der Universität Leipzig. Hier findet ihr die Originalpublikation.
Bildquelle: Aimee Vogelsang, unsplash