Seit diesem Jahr gibt es eine neue S2k-Leitlinie zur adoleszenten idiopathischen Skoliose. Ihr Ziel: Diagnostik, konservative und operative Therapie vereinheitlichen und verbessern. Ob das gelingen kann, lest ihr hier.
Mit der Veröffentlichung der S2k-Leitlinie „Adoleszente Idiopathische Skoliose“ (AIS) versprechen sich die herausgebenden Gesellschaften eine Verbesserung der Diagnostik sowie der konservativen und operativen Therapie. Die AIS wird als eine dreidimensionale Wirbelsäulendeformität mit seitlicher Achsabweichung und Rotation definiert, die im Alter zwischen 10 und 18 Jahren beginnt. Ihre Prävalenz wird mit 0,47–5,2 % bei einem Geschlechterverhältnis von Mädchen zu Jungen zwischen 1,5–3:1 angegeben. Vermutet wird bei unbekannter Ätiopathogenese eine multifaktorielle Ursache mit Einfluss von endokrinologischen und genetischen Faktoren, weiblichem Geschlecht sowie einer Imbalance des Wachstums der verschiedenen Wirbelsäulenanteile mit vermehrtem Längenwachstum ventral.
Die Leitlinie wurde unter Federführung der Deutschen Wirbelsäulengesellschaft DWG, der Vereinigung für Kinderorthopädie VKO und der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie DGOU erarbeitet.
Die Leitlinie empfiehlt bei der klinischen Untersuchung u.a. die Parameter Becken- und Schulterstand, frontaler Rumpfüberhang, Taillendreiecke, Rippen- und Lendenwulst. Es sollten ab einem Rippen- oder Lendenwulst von 5° zur Sicherung der Diagnose Ganzwirbelsäulen-Röntgenaufnahmen in zwei Ebenen im Stand angefertigt werden. Hingewiesen wird auf mögliche Beinlängendifferenzen, die zu funktionellen Krümmungen führen und eine „echte“ AIS vortäuschen können. Diese sollten bei der Erstellung der Röntgenbilder mit Unterlegbrettchen ausgeglichen werden. In einem Absatz der Leitlinie finden manuelle Therapie (= Chirotherapie) und Osteopathie Erwähnung: „Liegt eine funktionelle Skoliose vor (d. h. keine „echte“ AIS, sondern eine Verkrümmung auf Basis z. B. einer Beinlängendifferenz oder von Schmerzen), kann eine manualtherapeutische oder osteopathische Therapie sinnvoll sein, Einzelstudien zu diesem Thema liegen vor.“ Da die Studien jedoch von wissenschaftlich schlechter Qualität sind, wird keine weitere Empfehlung für diese Behandlungsmaßnahmen ausgesprochen.
Den Aussagen zu Beinlängendifferenzen liegt in der Leitlinie ein Denkfehler zugrunde: Sie werden als gegeben hingenommen. Tatsächlich kommen echte, also anatomisch belegbare Beinlängendifferenzen nur selten vor, sie sind die Ausnahme! Dagegen führen Blockierungen an Wirbelgelenken und/oder den Kreuz-Darmbein-Fugen (ISG) zu reflektorischen Veränderungen der Statik, die der Körper autonom vornimmt, um den durch die Blockierungen verursachten erhöhten Muskeltonus zu reduzieren. Es ist wissenschaftlich gesichert, dass jede Gelenkblockierung den Tonus der zum Gelenk gehörenden Muskulatur steigert, was bei einer körperlichen Untersuchung getastet werden kann.
Die Gegenreaktion des Körpers zur Tonussenkung kann sowohl an der Wirbelsäule als auch am Becken durch Seitneigung oder Rotation oder die Kombination daraus erfolgen. So zeigen sich an der Wirbelsäule funktionelle Fehlhaltungen, die leicht mit einer Skoliose verwechselt werden können. Am Becken äußert sich eine Seitneigung als vorgetäuschte Beinlängendifferenz. Zusätzlich oder als alleinige Fehlhaltung kann am Becken eine Rotation auftreten. Diese erkennt ein Untersucher, wenn er am Patienten im parallelen Barfußstand senkrecht über die Glutealmuskulatur nach unten schaut und ein ungleicher Abstand zu den Fersen besteht.
Eine besondere Bedeutung hat im thorakolumbalen Bereich der M. iliopsoas, der aus dem M. psoas major und dem M. iliacus besteht. Ursprünge des M. psoas major sind Wirbelkörper und Bandscheiben BWK 12 bis LWK 4 und Querfortsätze LWK 1–4. Der M. iliacus entspringt in der Fossa iliaca und setzt zusammen mit dem M. psoas major am Trochanter minor femoris an. Bei einseitiger Kontraktion kommt es zur Flexion im Hüftgelenk, an der LWS zur Lateralflexion und je nach Stellung im Hüftgelenk zu einer Außen- oder Innenrotation. Besteht im Ursprungsbereich der Wirbelsäule eine Gelenkblockierung, so geraten bei reflektorisch erhöhtem Muskeltonus Wirbelsäule und Becken in eine Fehlstellung mit Verdrehung und/oder Beckenschiefstand.
In Chirotherapie und Osteopathie ausgebildete Therapeuten wissen, dass es 14 unterschiedliche Möglichkeiten der Beckenfehlstellung geben kann, die alle rein funktioneller Art sind, also durch entsprechende manualtherapeutische Behandlungen beseitigt werden können. Ein erhöhter Tonus des M. iliacus kann in Rückenlage des Patienten im Seitenvergleich am vorderen Innenrand der Beckenschaufel getastet werden.
Trotz Blockierungen, Verspannungen und Fehlhaltung haben Kinder und Jugendliche nicht unbedingt Schmerzen. Oftmals entstehen und bleiben die Fehlhaltungen asymptomatisch. Deshalb ist eine routinemäßige Untersuchung durch Kinderärzte und/oder Orthopäden sinnvoll. Empfehlenswerte Untersuchungszeitpunkte sind
Werden Fehlhaltungen nicht erkannt und beseitigt, können sie die Entwicklung einer Skoliose begünstigen. Im klinischen Alltag wurden mir bereits häufiger Jugendliche mit der Diagnose „Skoliose“ überwiesen, die nicht bestätigt werden konnte. Stattdessen handelte es sich um eine skoliotische Fehlhaltung, die manualtherapeutisch/osteopathisch meist in einer Sitzung beseitigt werden konnte. Da die Fehlhaltungen oft mit einem Rippen- oder Lendenwulst über 5° einhergehen, müssten – den Empfehlungen der Leitlinie folgend – alle diese Kinder und Jugendlichen radiologisch mit Ganzwirbelsäulenaufnahmen untersucht werden.
Die Autoren der Leitlinie können nicht gewollt haben, dass diese Patienten unnötig Röntgenstrahlen ausgesetzt werden. Auch die Leitlinien-Empfehlung, beim Röntgen einen Beckenschiefstand mit Unterlegbrettchen auszugleichen, ist eine falsche Maßnahme. Stattdessen sollten Patienten mit skoliotischer Fehlhaltung vor einer Röntgenuntersuchung einem Arzt mit Zusatzqualifikation Chirotherapie, ggf. auch Osteopathie, vorgestellt werden, der Blockierungen an der Wirbelsäule oder am Becken erkennen und behandeln kann. So wird die Anzahl falsch positiver Skoliose-Diagnosen reduziert.
Es ist wünschenswert, dass mehr Kinderärzte und Orthopäden die Zusatzbezeichnung Chirotherapie erwerben, um frühzeitig Haltungsstörungen zu erkennen und suffizient zu behandeln. Es sollte in – hoffentlich nicht zu ferner – Zukunft erreicht werden, dass bei einem funktionellen Beckenschiefstand der vielfach automatisierte ärztliche Reflex einer Verordnung von Einlagen mit vermeintlichem Ausgleich einer vorgetäuschten Beinlängendifferenz unterbleibt.
Bildquelle: Bálint Szabó, unsplash