Jeder fünfte Patient nimmt dauerhaft drei oder mehr Präparate. Ob die Medikation langfristig schadet, hinterfragen Ärzte aus Angst vor Rebound-Phänomenen zu häufig nicht. Durch Deprescribing werden unnötige Pillen zum Wohle des Patienten systematisch gestrichen.
„Ich habe schon nach wenigen Monaten gemerkt, dass ich nicht mehr ohne Medikamente schlafen kann“, sagt Karin V.*, 73 Jahre alt. „Sobald ich meine Tabletten wieder geschluckt habe, wurde es besser.“ Alles fing bei ihr mit Rückenschmerzen an. Nach der OP erhielt sie Hypnotika und Benzodiazepine, kommt aber nicht mehr davon los. Dr. Rüdiger Holzbach beschreibt das Grundproblem bei der langfristigen Einnahme dieser Präparate: „Eigentlich hilft es nicht mehr, aber es verhindert Absetz- oder Entzugserscheinungen, deshalb wird es immer weiter genommen.“ Der Arzt arbeitet als Experte für Suchterkrankungen in Augsburg und kennt die Nebenwirkungen: „Wir sehen oft Pseudodemenzen – Patienten haben Gedächtnisprobleme oder Konzentrationsstörungen.“ Auch das Sturzrisiko steige. Gleichzeitig verringere sich die „körperliche und emotionale Energie“. Benzodiazepine oder Z-Substanzen sind aber nur ein Teil der Wahrheit. Medikamente wie Protonenpumpeninhibitoren (PPI), Statine oder Antihypertensiva werden oft als Dauertherapie verordnet, ohne dass ihre Sinnhaftigkeit überprüft wird . Pro-Kopf-Arzneimittelverbrauch von GKV-Versicherten in Deutschland (DDD: definierte Tagesdosis) © Statista, WidO/ Screenshot: DocCheck
So ist es nicht verwunderlich, dass ABDA-Angaben zufolge 23 Prozent aller Erwachsenen drei oder mehr Arzneimittel dauerhaft nehmen. In 40 Prozent aller Fälle treten Probleme auf, etwa durch die Wechselwirkung von Pharmaka. Ärzte und Apotheker versuchen nicht nur, diese Interaktionen zu beheben. Ihr Ziel ist es auch, die Verabreichung unnötiger oder schädlicher Medikamente zu verringern. Dabei hilft ihnen der Prozess des sogenannten Deprescribings, dem systematischen Streichen von langfristig eingenommenen Medikamenten. Die wichtigsten Fragen lauten hierbei:
Ein Ergebnis des Deprescribings könnte so aussehen: © lessismoremedicine.com / Screenshot: DocCheck Genaue Kriterien oder Leitlinien, wann Arzneimittel abzusetzen sind, gibt es nicht. Damit brauchen Arzt und Apotheker viel Fingerspitzengefühl, aber auch viel Kommunikation. Dass die Vorgehensweise ihre Berechtigung hat, steht außer Frage. Einer älteren Übersichtsarbeit zufolge ist es Ärzten und Apothekern gemeinsam gelungen, bei mindestens 20 Prozent aller Patienten Pharmaka langfristig zu streichen. Selbst bei Palliativpatienten war es anhand des Schemas möglich, Medikamente einzusparen. Mittlerweile gibt es diverse Studien zu Absetzmöglichkeiten von besonders häufig verordneten Medikamenten.
Bei der Behandlung von Säure-assoziierten Erkrankungen wie der gastroösophagealenRefluxkrankheit (GERD) haben sich Protonenpumpenhemmer bewährt. Dauertherapien machen jedoch nur bei ausgewählten Indikationen wie einem Barrett- oder einem Zollinger-Ellison-Syndrom Sinn. Dem stehen mögliche Nebenwirkungen, allen voran mehr Knochenbrüche und häufigere Infektionen, gegenüber. Trotzdem verordnen Ärzte PPI langfristig, ohne die Sinnhaftigkeit regelmäßig infrage zu stellen. Das liegt an der Angst vieler Ärzte vor Rebound-Phänomenen: Das Phänomen beschreibt in der Pharmakologie eine überschießende Gegenreaktion bei abruptem Absetzen eines Medikaments. Das allzu schnelle Absetzen kann selbst bei gesunden Menschen zu Beschwerden führen. Vor einigen Monaten untersuchten Forscher der Cochrane Collaboration PPI-Ausstiegsstrategien. Momentan gibt es jedoch zu wenige methodisch hochwertige Arbeiten, um eine abschließende Empfehlung zu geben. Kanadische Ärzte haben auf Basis weiterer Veröffentlichungen sogar eine eigene Leitlinie zum PPI Describing entwickelt. Sie raten Erwachsenen, die mindestens vier Wochen lang Säureblocker aufgrund von Sodbrennen, oder wegen einer leichten bis mittelschwerer gastroösophagealen Refluxkrankheit oder einer Ösophagitis erhalten haben, zu folgender Vorgehensweise:
Neben PPI gehören Statine zu den am häufigsten verordneten Arzneimitteln. Sie machen bei Patienten zur Primär- und Sekundärprophylaxe kardiovaskulärer Erkrankungen Sinn, werden aber langfristig mit Typ 2-Diabetes und mit Nierenschädigungen in Verbindung gebracht. Ärzte hinterfragen zu selten, ob ihre Medikation im Gesamtkonzept noch sinnvoll ist. Vielleicht machen Lebensstil-Interventionen das Präparat ja überflüssig? Oder vielleicht haben sich die Leber- und die Nierenfunktion verschlechtert, so dass Statine auf die Abschussliste gehören? Häufig werden Präparate aus dieser Wirkstoffgruppe bis zum Tod verordnet. In einer großen Kohorte mit mehr als 1.700 Krebspatienten bekam jeder dritte noch einen Monat vor seinem Ableben Statine. Dass Deprescribing bei diesen Arzneistoffen risikolos möglich ist, zeigt eine Veröffentlichung von Jean S. Kutner, Forscher an der University of Colorado School of Medicine in Aurora. Zusammen mit Kollegen hat er 381 multimorbide Patienten in eine Studie aufgenommen. Von ihnen stoppten 189 die Statin-Therapie und 192 führten sie fort. Kutner fand keine signifikanten Unterschiede bei der 60-Tage-Sterblichkeit. Kardiovaskuläre Ereignisse traten bei 13 (Deprescribing) versus elf Patienten (Dauertherapie) auf. Ärzte strichen bei Personen, die auf Statine verzichteten, weitere Präparate. Kutner vermutet, diese seien vor allem verordnet worden, um Statin-assoziierte Nebenwirkungen zu kompensieren. In Summe war die Lebensqualität ohne Statineinnahme deutlich höher. Kutcher arbeitete dabei mit dem McGill Quality of Life in Life Score. Der Fragebogen umfasst 18 Fragen rund um die physische und psychische Beeinträchtigung durch Krankheiten.
Weniger erfolgversprechend verliefen Deprescribing-Strategien bei Benzodiazepinen und Z-Substanzen. Emily Reeve von der Sydney Medical School fand bei ihrer Literaturrecherche sieben Studien. Dabei setzten Ärzte auf Melatonin, versuchten ihr Glück mit Patientenschulungen oder kombinierten beide Methoden. „Da der Nutzen und die Nachhaltigkeit dieser Interventionen unklar sind, sollten weitere Studien durchgeführt werden, um dies zu bewerten“, so Reeve. Deprescribing bleibt damit ein wichtiges Forschungsthema. *Name von der Redaktion geändert