Mehr als die Hälfte der Kinder mit Dyskalkulie sind auch von Legasthenie betroffen, wie Kinder- und Jugendpsychiater der LMU München herausgefunden haben. Sie fordern mehr Fingerspitzengefühl bei der Diagnose, um betroffene Kinder früh und intensiv zu fördern.
Eine Rechenstörung bei Grundschülern tritt häufig nicht isoliert auf. Wie Forscher der LMU München im Rahmen einer Studie nachweisen konnten, zeigte mehr als die Hälfte der getesteten Kinder mit einer Dyskalkulie zusätzlich eine Lese- oder Rechtschreibstörung oder sogar beide Ausprägungen der Legasthenie. „Betroffene Kinder brauchen eine intensive und spezifische Förderung, sonst ist die Gefahr des schulischen Scheiterns sehr groß“, sagt Prof. Gerd Schulte-Körne, Leiter der Studie und Direktor der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie der LMU. „Für die Behandlung der Dyskalkulie und der beiden anderen Lernstörungen gibt es vielversprechende Ansätze, die aber ein intensives, über einen längeren Zeitraum gehendes Training voraussetzen.“
Laut Schulte-Körne fehlt Kindern mit einer Dyskalkulie insbesondere die Vorstellung für Mengen und Größenordnungen: „Sie können zum Beispiel nur schwer einschätzen, wie viele Milliliter in einen Liter passen.“ Über die Ursachen dieser Lernstörung ist noch wenig bekannt. Aktuelle Untersuchungen deuten jedoch darauf hin, dass bei den Betroffenen nicht nur die für die Vorstellung von Mengen zuständigen Gehirnregionen, sondern auch die von ihnen ausgehenden Nervenfasern verändert sind. An der in der Fachzeitschrift PLOS ONE veröffentlichten Studie nahmen 1.633 Dritt- und Viertklässler aus 18 Grundschulen in München und Umgebung teil. Die Lernfähigkeiten der Schüler untersuchten Schulte-Körne und seine Kollegen klassenweise mithilfe dreier Tests. Zuerst sollten die Schüler einfache Sätze („Hunde können bellen“) so schnell wie möglich lesen und ankreuzen, ob ihre Bedeutung zutrifft oder nicht. Danach überprüften die Forscher deren Rechtschreibung mit einem kurzen Diktat. Zum Schluss lösten die Schüler Rechenaufgaben: Für jede der vier Grundrechenarten mussten sie jeweils binnen zwei Minuten so viel richtige Antworten wie möglich finden. Mit ihrer Untersuchung wollten die Forscher um Schulte-Körne nicht nur herausfinden, wie häufig Lernstörungen bei deutschen Schülern sind, sondern auch, ob Dyskalkulie und Legasthenie gemeinsam auftreten können.
Die Ergebnisse der Studie überraschten die Forscher: „Wir sahen eine auffällig hohe Überlappung zwischen den einzelnen Lernstörungen“, sagt Schulte-Körne. „57 Prozent der Kinder mit Dyskalkulie litten auch an einer Legasthenie.“ Insgesamt hatten fast 3,5 Prozent der getesteten Kinder sowohl eine Rechen- als auch eine Rechtschreibstörung. Deren gemeinsames Auftreten erklärt der Forscher wie folgt: „Im Gehirn ist der visuelle Cortex, der für die grafische Repräsentation von Ziffern und Buchstaben verantwortlich ist, über Nervenfasern direkt mit dem Hörzentrum verbunden“, so Schulte-Körne. „Wenn in den Leitungsbahnen zwischen den beiden Gehirnregionen Störungen auftreten, dann wirkt sich das zwangsweise sowohl auf die Rechen- als auch die Schreibfähigkeiten aus.“ Im Schulalltag bleibt das gemeinsame Auftreten von Lernstörungen viel zu häufig unentdeckt: Kaum jemand, so Schulte-Körne, schaue bei einem Kind, wenn es beim Rechnen Probleme habe, ob es auch Probleme beim Schreiben habe und umgekehrt. „Die Ergebnisse unserer Studie zeigen eindeutig, dass eine solche Praxis nicht zu rechtfertigen ist“, findet Schulte-Körne. „Sobald ein Schüler beim Lernen spezifische Probleme hat, müssen wir in Diagnostik und Förderung das gesamte Spektrum der Lernstörungen mitberücksichtigen.“ Derzeit gibt es in deutschen Schulen jedoch kein systematisches Vorgehen, um Kinder mit einer Rechenstörung zu entdecken und zu fördern.
„Ein großes Problem ist zudem, dass angehende Lehrkräfte in ihrem Studium nicht lernen, dass Dyskalkulie als eigenständige und behandelbare Lernstörung überhaupt existiert“, sagt Schulte-Körne. Seiner Meinung nach wären insbesondere Frühförderprojekte geeignet, in deren Verlauf Kinder auf spielerische Weise Mengen und Zahlen schon in der Vorschule kennen lernen. „Man kann selbst bei einer Förderung in der Grundschule noch ausreichende Fortschritte erzielen, so dass Schüler mit Dyskalkulie die nächsten Hürden im Mathematikunterricht überwinden können“, sagt Schulte-Körne. „Die Fördermaßnahmen sollten jedoch nicht schlagartig nach dem Übergang von Grundschule in die weiterführende Schule aufhören, sondern danach fortgesetzt werden.“ Andere Experten teilen die Meinung des Münchener Forschers: „Schon in deutschen Kindergärten dominiert eine Abwehrhaltung gegen alles, was früh vorbereitend ist“, sagt Prof. Marcus Hasselhorn, geschäftsführender Direktor des Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische Forschung in Frankfurt. „Dann ist es kein Wunder, wenn in der Schule die Probleme verstärkt auftauchen.“ Um Lernstörungen aufzuspüren, so Hasselhorn, sollte die dafür nötige Diagnostik spätestens an den Schulanfang gelegt werden. Bei Dritt- und Viertklässlern hätten sich Lernstörungen schon ziemlich gefestigt und es erfordere einen hohen Aufwand, sie zu beheben.
Hasselhorn favorisiert ein Diagnoseverfahren, wie es bereits viele Schulen in Großbritannien praktizieren. Dort überprüfen Lehrer ab der ersten Klasse in halbjährigen Abständen die Rechen- und Schreibfähigkeiten ihrer Schüler. Ein Universitätsinstitut wertet die Tests zentral aus und schickt die gemessenen Lernverläufe den Lehrern in standardisierter Form zurück. Diese haben so rechtzeitig die Möglichkeit, individuelle Fördermaßnahmen zu treffen und so die Quote für das Auftreten von Lernstörungen niedrig zu halten. Nicht nur Hasselhorn sondern auch Schulte-Körne fordert ein Umdenken in der deutschen Bildungslandschaft: „Dyskalkulie und Legasthenie treten viel häufiger gemeinsam auf als bisher gedacht. Viele Kinder in Deutschland sind davon betroffen und deshalb müssen alle Verantwortlichen hier viel genauer hinschauen“, so Schulte-Körne. „Im Moment wird diese Problematik noch weitgehend ignoriert und viele Kinder mit Dyskalkulie alleine oder in Kombination mit einer Legasthenie erreichen nicht den eigentlich für sie möglichen bildungsadäquaten Abschluss, was sich unsere Gesellschaft auf Dauer nicht leisten kann.“