Vom adretten, pünktlichen Frühaufsteher zum wasserscheuen Nachtschwärmer: Herr Spatz hat sich gewandelt, seit er im Pflegeheim ist. Das passt seinen Angehörigen nicht – ist aber ein schönes Beispiel für Selbstbestimmung.
Selbstbestimmung – eines der Themen, die am kontroversesten diskutiert werden. Zum einen natürlich politisch, wie aktuell im Hintergrund des Selbstbestimmungsgesetzes, zum anderen aber auch zwischen Pflegepersonen und Angehörigen. Aber fangen wir vorne an: Was bedeutet selbstbestimmtes Leben? Wie kann das aussehen? Und vor allem: Wie geht man damit um?
Bei einem Punkt sind wir uns auf jeden Fall einig: Jeder möchte so leben, wie er oder sie es wünscht. Die eigenen Wünsche haben vor denen anderer Vorrang. So handeln wir in unserem täglichen Leben und so soll es (hoffentlich) auch im Alter und bei Krankheit sein. Wir haben dafür viele Hilfsmittel, die unseren Willen klar und auch schriftlich ausdrücken, um für den Fall vorbereitet zu sein, dass wir dazu nicht mehr in der Lage sind: Testament, Patientenverfügung, Vorsorgevollmacht und so weiter. Jedoch regeln diese Dinge hauptsächlich medizinische oder essenzielle Dinge, die mit unserem Über- und Ableben zu tun haben. Was ist aber mit den Bedürfnissen und Wünschen, die einfacher oder alltäglicher sind?
Nehmen wir Herrn Spatz zum Beispiel. Er ist Bewohner in einem Pflegeheim, 91 Jahre alt und leidet an Demenz. Aufgrund der fortgeschrittenen und weiter fortschreitenden Erkrankung haben sich sein Wesen und sein Alltag stark verändert. Früher galt er als vornehm, modebewusst und sehr auf sein Äußeres bedacht, war immer pünktlich und konnte zeitliche Abweichungen gar nicht leiden. Heute scheint er gar kein Interesse mehr an seinem Erscheinungsbild oder seiner Tagesstruktur zu haben. Im Gegenteil: Körperpflege und Hygiene stehen ganz unten auf der To-Do-Liste. Viele seiner Handlungen sind impulsiv und spontan – sie wechseln von Tag zu Tag, passend zu seiner Tag-Nacht-Umkehr. Herausfordernd ist dieses Verhalten vor allem im Setting des Pflegeheims, weil er sich durch seine ablehnende Art optisch und olfaktorisch vom typischen Pflegeheimbewohner stark abgrenzt. Tagsüber ist er mit Pyjama unterwegs oder schläft, nachts verlangt er halb angezogen sein Mittagessen. Pflegerische Maßnahmen stinken ihm besonders im Laufe des Tages – dort hat er immer andere Dinge zu tun, die ihm wichtiger sind.
Als wäre Herr Spatz in diesem Setting nicht schon aufregend genug, gesellen sich seine Angehörigen hinzu, die seinen jetzigen Zustand nicht akzeptieren können. Vor allem an der mangelnden Hygiene hängen sie sich oft auf und machen ihrem Unmut beim Pflegepersonal Luft. Trotz mehrfacher Gespräche erhält man immer Antworten wie „Aber das hat er früher nie getan!“ oder „So kennen wir ihn gar nicht, das kann er doch nicht wollen!“, bis hin zu Vorwürfen, dass wir ihn nicht richtig versorgen würden. Anschließend versuchen sie, ihn zu Tätigkeiten zu drängen, die er ablehnt – bis er irgendwann genervt einknickt. Zum Beispiel bei Essen, das er früher gerne mochte, heute allerdings nicht mehr mag, zu Zeiten, die ihm früher gepasst haben, aber heute in seine Ruhephasen fallen.
In diesem Fall sind die Angehörigen die Übeltäter, aber auch von pflegerischer Seite habe ich solch ein Verhalten bereits erleben müssen. Bewohner, die zu pflegerischen Handlungen gedrängt werden, weil der Zeitplan und die Personaldichte es so vorsehen – oder umgekehrt die Vernachlässigung, weil außerhalb des Zeitplans die Flexibilität fehlt, um eine adäquate pflegerische Versorgung anbieten zu können. Essen, was unangetastet weggeworfen und später nicht mehr angeboten wird, weil die Küche das Geschirr wieder zurückhaben möchte und vieles mehr. Ich könnte ein Buch darüber schreiben. Es sind Probleme, die in Pflegeheimen und Kliniken gleichermaßen auftreten.
Wenn wir also in solch einem Fall von Selbstbestimmung reden, dann geht es um die Respektierung der Wünsche und Bedürfnisse des Bewohners – auch, wenn es gegen unsere Normvorstellung geht. Natürlich unterscheiden wir dabei zwischen lebensbedrohlichen Veränderungen, in denen zwingend pflegerisch/medizinisch interveniert werden muss (z. B. bei starkem, ungewolltem Gewichtsverlust oder Exsikkose) und rein optischen und vertretbaren „Mängeln“. Mängel tatsächlich in Anführungszeichen, denn diese Mängel bestehen nur für die Personen außerhalb, nicht für den Patienten/Bewohner selbst.
Selbstbestimmung ist eines der höchsten Güter, die wir in Deutschland haben. Daher gehört es auch zu unserer Aufgabe, sie im Rahmen unserer Tätigkeit für unsere Schutzbefohlenen einzuhalten und zu verwirklichen. Wie ich jedoch bereits erwähnt habe, gibt es viele Faktoren, die gegen diese Verwirklichung Arbeiten: Traditionelle (effizienzorientierte) Arbeitsweisen, Wünsche der Angehörigen, Personalmangel und viele weitere.
Daher ein paar Tipps, wie ich damit in meiner Funktion als PDL umgehe: Als junge Führungskraft habe ich mich relativ schnell an den tradierten Arbeitsabläufen abgearbeitet. Fokus sollte nicht auf die reine Aufgabenbewältigung – das Abarbeiten der Bewohner – liegen, sondern auf Qualität bei der Versorgung. Für jemanden, der viel Erfahrung in der Psychiatrie sammeln konnte, war mir sehr schnell klar, dass glückliche und zufriedene Bewohner deutlich weniger Arbeit machen als unzufriedene. Auch aktivierende Pflege spielt dabei eine wichtige Rolle, denn die Erhaltung von Ressourcen spart am Ende nicht nur Zeit, sondern – Überraschung! – auch Ressourcen. So haben wir es in unserem Haus zum Beispiel ermöglicht, dass viele Bewohner mit einem höheren Pflegegrad ausgestattet sind als es der Ersteindruck macht, da wir die Ressourcenerhaltung in den Mittelpunkt gestellt haben. Das geht aber auch nur in Kombination mit einem guten Pflegegradmanagement und der engen Zusammenarbeit mit dem Team.
Zudem kann die Erfüllung von Wünschen bezüglich der Zeiten nicht nur eine Herausforderung, sondern auch eine Erleichterung sein. So haben wir Körperpflegen über alle Schichten (ja, auch im Nachtdienst) geplant – bis 8 Uhr gestriegelt am Frühstückstisch zu sitzen, ist kein Qualitätsmerkmal! Das erfordert Flexibilität, eröffnet aber gleichzeitig morgens Korridore für die Kommunikation mit den Hausärzten, die Dokumentation und natürlich eine störfreie Pause. Der Nachtdienst beispielsweise geht in unserem Haus über 10 Stunden, daher ist es dort möglich, abends nach dem Rundgang und morgens vor der Übergabe eine Körperpflege auf Wunsch durchzuführen, was auch regelmäßig genutzt wird. Frühaufsteher und Langschläfer kommen dabei gleichermaßen auf ihre Kosten.
Die Wünsche der Angehörigen haben indes eine eher untergeordnete Rolle, da wir bei Selbstbestimmung nicht über die Tochter oder den Enkel sprechen, sondern über den Bewohner selbst. Daher ist es hier wichtig, stetig in Kontakt zu bleiben und Gespräche mit den Angehörigen zu suchen. Sie bieten zum Beispiel auch eine gute Informationsquelle, die gerade bei Demenz dabei helfen kann, Verhaltensweisen zu verstehen. So habe ich es einmal erlebt, dass eine Bewohnerin in ihrer Jugend sexuell missbraucht wurde und daher Männer bei der Körperpflege diese Angst getriggert haben. Anfangs war es nicht klar, woher die Probleme genau kommen – ein Gespräch mit dem Sohn hat Aufschluss gegeben und wir haben uns angepasst.
Angehörige können also eine gute Hilfestellung sein. Nicht nur beim Assessment, sondern auch durch ihre Anwesenheit, z. B. bei Arztbesuchen oder bei der Unterstützung von Gruppentherapien. Wir haben mehrere Angehörige, die gerne Teil der pflegerischen Versorgung ihrer Familienmitglieder sein wollen. Natürlich nicht in dem Maße, wie es zu Hause der Fall war, aber persönliche Betreuung, die Unterstützung bei einzelnen Mahlzeiten oder auch die abendliche, körperpflegerische Versorgung. Dies entlastet das Pflegepersonal und fördert die Bindung zwischen Haus und Angehörigen. Gleichzeitig – und das unterschätzen viele – bietet es eine Plattform, Einblick in die Arbeit unseres Hauses zu geben und ist kostenlose Werbung. Dies verhilft nicht nur zu einer vollen Warteliste für die Pflegeplätze, sondern bietet auch die Möglichkeit, als kleines Haus konstant an neue Mitarbeiter zu kommen, die von der guten Versorgung Wind bekommen.
Womit wir beim Thema Personalmangel wären – denn auch dieser lässt sich mit kreativen Ideen bewältigen. Wir bieten beispielsweise eine stambulante Versorgung an, die ambulante und stationäre Versorgung kombiniert. Dadurch gelten wir als zwei Firmen und haben eine Personalplanung für die ambulante sowie die stationäre Abteilung, obwohl es de facto kombiniert in einem Haus mit einem Team abläuft. Das ermöglicht es uns, Personal flexibler einzuteilen, vor allem zu Stoßzeiten. Zum Beispiel sind „Muttidienste“, also der Beginn nach 8 Uhr und das Ende des Dienstes um 12 Uhr, hoch im Kurs und können durch geschickte Einsatzplanung gut abgedeckt werden.
Auch die ambulante Versorgung können wir nach Absprache zu Zeiten durchzuführen, die weniger überfüllt sind. Für die ambulanten Bewohner ermöglicht dies aber auch die Möglichkeit, 24/7 Hilfe zu holen und diese ohne Wartezeit auf Wunsch zu erhalten. In Kombination mit dem betreuten Wohnen (Mieteinnahmen), einer hausinternen Tagespflege (welche die ambulanten Bewohner nutzen können und damit die Vorzüge der stationären Versorgung genießen, ohne vollständig Teil davon zu sein) und Serviceleistungen von Haustechnik über Hauswirtschaft bis hin zur Küche ermöglichen genug Einnahmen, um mehr Personal einzustellen, als es anderswo möglich ist. Damit haben wir zumindest die Rahmenbedingungen geschaffen, die angenehmes Arbeiten ermöglichen. Der allgemeine Personalmangel ist damit aber natürlich nicht verhindert.
Ich möchte am Schluss nochmals betonen: Selbstbestimmung ist ein wichtiges Gut. Wir wünschen uns alle, dass unsere Wünsche respektiert und unseren Bedürfnissen entsprochen wird. Das setzt aber auch eine gewisse Flexibilität voraus, um mit den Problemen zurechtzukommen, die das aufwerfen kann. Wenn es richtig läuft, dann, und ich spreche hier aus Erfahrung, führt das zu einem besseren Miteinander und deutlich weniger Stress im Arbeitsalltag. Zudem verhindert es Coolout beim Personal, über das ich bereits einen Artikel hier auf DocCheck verfasst habe.
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