Die Borreliose ist ein ewiges Streitthema. Einige Ärzte sind überzeugt, dass die Krankheit als chronisches Leiden mit Allgemeinsymptomen verlaufen kann. Der Rest der Fachwelt widerspricht: Diese Theorie entbehre jeder wissenschaftlichen Grundlage.
Lyme-Borreliose ist die in Europa häufigste durch Zecken übertragene Infektionskrankheit. Sie kann symptomlos verlaufen. In anderen Fällen befallen die Bakterien Nervensystem, Haut oder Gelenke und sorgen für starke Beschwerden. Das Robert Koch-Institut geht von 40.000 bis 120.000 Neuerkrankungen pro Jahr aus. Einige Ärzte glauben, dass sich eine Borrelien-Infektion noch Jahre später als chronisches Leiden mit einer Reihe von Allgemeinsymptomen bemerkbar machen kann: Wenn die akute Phase der Erkrankung übersprungen wurde oder die Borreliose nach einer Behandlung mit Antibiotika nicht ausgeheilt ist. Für Frank Riedel steht fest: „Die chronische Borreliose ist ein viel zu oft übersehenes Leiden.“ Riedel ist Facharzt für Allgemeinmedizin und zweiter Vorsitzender der Deutschen Borreliose Gesellschaft (DeuBo). Deren Mitlieder eint die Überzeugung, dass die Infektion mit Borrelien nicht nur akute, sondern auch chronische, multisystemische Beschwerden hervorrufen kann: ständige Abgeschlagenheit, wechselnde Gelenkschmerzen, Muskelschmerzen, Schlafstörungen und Depressionen.
Kommen Patienten mit solchen Beschwerden zu Riedel, erfragt er zunächst, ob sie sich an einen Zeckenstich oder ein Erythema migrans erinnern. Die typische Wanderröte gilt als klassisches Erkennungsmerkmal der akuten Borreliose, wird allerdings, genau wie der Zeckenstich, nicht immer bemerkt. Bei einem Anfangsverdacht lässt er das Blut der Patienten mithilfe von ELISA und Western Blot auf Antikörper untersuchen. Er führt außerdem weitere Tests durch, wie den Lymphozytentransformationstest (LTT), der Hinweis auf eine aktive Infektion mit Borrelien geben soll. Dabei wird die Vermehrungsgeschwindigkeit von Lymphozyten nach dem Kontakt mit Borrelien getestet. Eine schnelle Vermehrung soll auf eine Wiedererkennung des Erregers und somit auf eine erfolgte Infektion hindeuten. Zusätzlich macht Riedel einen CD57+ Test, der Aufschluss über das Vorkommen bestimmter Killerzellen gibt. Bei einer bestehenden Infektion sei ihr Spiegel häufig erniedrigt. Riedel ist sich bewusst, dass diese Tests umstritten und auch nicht immer zuverlässig sind. So zahlen die Krankenkassen einen LTT bei Borreliose seit Jahren nicht mehr – weil er wissenschaftlich nicht anerkannt ist, und zum Beispiel falsch positiv ausfallen kann. Auch der CD57+ Test ist keine Kassenleistung. Es gebe tatsächlich keinen eindeutigen Nachweis, der für sich allein steht, sagt Riedel. Die Testergebnisse in ihrer Gesamtheit sieht er dennoch als wichtige Indizien, die er zusammen mit der Anamnese auswertet.
Während er bei seiner Diagnose auch auf Tests setzt, die andere Kollegen ablehnen, hält Riedel den Antikörpertest nicht für hundertprozentig zuverlässig. Nach seiner Einschätzung kann hierbei in bis zu einem von zehn Fällen eine chronische Borreliose vorliegen, auch wenn die Testergebnisse negativ sind. Die Sensitivität der Tests sei mäßig, sagt Riedel, Erreger könnten versteckt im Körper persistieren. Die meisten Experten, die nicht der DeuBo (Deutsche Borreliose Gesellschaft) angehören, halten das hingegen für Unfug. Auch weil bislang nur der umgekehrte Fall bewiesen ist: Je nach Region können bis zu 20 Prozent der Bevölkerung nach einer früheren, womöglich unbemerkten Infektion noch Antikörper im Blut haben – aber keine Symptome. Wenn Riedel glaubt, dass ein Patient an chronischer Borreliose leidet und die Infektion aktiv ist, behandelt er mit Antibiotika. Auch dann, wenn in der Vergangenheit schon einmal antibiotisch behandelt wurde. Viele Kollegen würden die Borreliose damit für austherapiert halten, sagt Riedel, er jedoch nicht. Er beruft sich unter anderem auf eine Studie von Wissenschaftlern der University of New Haven, die 2012 veröffentlicht wurde. Demnach können Borrelien aggregieren und sich mit einem Biofilm vor Antibiotika schützen.
Riedel arbeitet deshalb auch mit komplementärmedizinischen Verfahren, um die Antibiose zu unterstützen. Mit der Ausleitung von Schwermetallen und der Gabe von proteolytischen Enzymen oder pflanzlichen Mitteln hofft er zu verhindern, dass die Erreger den Biofilm bilden. Bei anderen Patienten vermutet Riedel keine aktive Infektion, sondern Autoimmunprozesse als Ursache der Beschwerden, die die Folge einer vorangegangenen Infektion sind. Ein Modell, dass auch Kritiker der DeuBo nicht für völlig unmöglich halten. In solchen Fällen versucht Riedel, das Immunsystem der Patienten mit naturheilkundlichen Verfahren zu stärken. Riedel weiß, dass viele seiner Kollegen sein Vorgehen für unwissenschaftlich halten würden. „Ich bin ja schließlich auch Schulmediziner. Und natürlich steckt man in dem Dilemma, dass wenig wirklich bewiesen ist. Ich habe aber das Gefühl, wenn ich die Schulmedizin hier nicht teilweise auch mal verlasse, würde ich meine Patienten verlassen.“ Nicht immer falle die Diagnose dabei eindeutig aus, gibt Riedel zu: „Wenn die Mehrzahl der Indizien eher gegen eine chronische Borreliose sprechen, dann müssen mit dem Patienten auch andere Ursachen seiner Beschwerden erörtert werden. Auch wenn viele Borreliosepatienten zu Unrecht in die psychosomatische Ecke geschoben werden, gibt es natürlich auch den umgekehrten Fall.“
Was ihn bestärke, sei der Erfolg, den er mit seinen Behandlungen hat. „Ich kann sehr vielen Patienten helfen, bei drei Vierteln erziele ich ein gutes Ergebnis.‟ Viele seien geheilt, manchen ginge es einfach nur besser. In einigen Fällen helfen die Antibiotika vorübergehend, und nach einigen Monaten kommen die Beschwerden wieder. Dann müsse die Behandlung gegebenenfalls wiederholt werden. „Und natürlich gibt es auch Therapieversager.“ Ganz ähnlich wie Riedel sieht es Jan-Olaf Reinhardt, dritter Vorsitzender der DeuBo. Auch er ist Facharzt für Allgemeinmedizin und bietet zusätzlich Naturheilverfahren an. Reinhardt glaubt ebenfalls, dass viele Ärzte chronische Borreliose-Erkrankungen übersehen, weil die Erreger trotz negativem Erregernachweis unbemerkt persistieren. „Das Hauptproblem ist, dass Patienten bei einer negativen Serologie zu den Akten gelegt werden. Dabei gibt es eine große Menge Patienten, die es trotzdem haben könnten.“ Reinhardt verweist auf eine Untersuchung britischer Forscher, bei der die Sensitivität verschiedener Antikörpernachweise für Borreliose um die 60 Prozent lag. Allerdings hatten die Autoren der Studie selber angemerkt, dass für die Untersuchung nicht ausreichend zwischen frühen und späten Stadien der Erkrankung unterschieden wurde. Und dass der Antikörper-Nachweis im frühen Krankheitsstadium nicht immer gelingt, ist bekannt.
Die Diagnose der chronischen Borreliose sei zwar schwierig, sagt Reinhardt. Und es gebe „womöglich immer ein paar Fälle bei denen man sich nicht sicher ist.‟ Gerade bei multimorbiden älteren Menschen sei es nicht immer möglich, die Symptomatik klar zuzuordnen. Es sei aber ein Fehler der 5-Minuten-Medizin, komplizierte Verläufe zu ignorieren, und Patienten vorschnell als Psychosomatiker abzustempeln. Am Erklärungsmodell der DeuBo hält auch er vor allem wegen seiner Behandlungserfahrungen fest: „Ich habe viele Patienten gesehen und weiter verfolgt.“ Wie Riedel behandelt er wiederkehrende Infektionen wiederholt mit Antibiotika. Sebastian Rauer © Universitätsklinikum Freiburg Der Neurologie-Professor Sebastian Rauer ist an der Universitätsklinik Freiburg tätig. Die Borreliose gehört zu den wissenschaftlichen und klinischen Schwerpunktgebieten seiner Arbeit. Für ihn stellt sich die Situation genau andersherum dar, als für die „Borrelianer‟, wie die Anhänger der DeuBo-Theorie auch genannt werden. Chronische Verlaufsformen der Borreliose, die sich überwiegend durch Myalgien, wandernde Gelenkschmerzen und Antriebslosigkeit äußern, gebe es in der Regel nicht, sagt Rauer: „Fast immer, wenn eine chronische Borreliose mit ausschließlich unspezifischen Symptomen diagnostiziert wird, ist diese Diagnose falsch.“ Diese Einschätzung teilten übrigens sämtliche medizinische Fachgesellschaften – nur eben nicht die DeuBo. Als Koordinator der interdisziplinären S3-Leitlinie Neuroborreliose der Deutschen Gesellschaft für Neurologie hat sich Rauer im Rahmen von Konsensuskonferenzen wiederholt mit Vertretern der DeuBo auseinandergesetzt. „Einig sind wir uns dabei nicht geworden“, sagt Rauer. „Die DeuBo stellt Behauptungen auf, die wissenschaftlich nicht belegt sind. Es gibt ganz einfach keinen Nachweis dafür, dass chronische Borrelioseformen, wie sie die DeuBo definiert, existieren.“ Besonders starken Widerspruch ruft bei Nicht-Borrelianern die Vorstellung hervor, eine chronische Borreliose könne ohne Weiteres auch bei negativem Antikörpertest vorkommen. „Die Idee entbehrt jeder wissenschaftlichen Rationale“, sagt Rauer. Der Test auf Antikörper schlage höchstens zu Beginn einer Infektion nicht an. Bei chronischen Infektionen sei das allenfalls bei Patienten mit einem Immundefekt möglich – doch die seien extrem selten.
Spätmanifestationen, die erst lange Zeit nach einem – womöglich unbemerkten – Zeckenstich auftreten, gebe es zwar durchaus. Diese gingen aber nicht nur mit einem positivem Antikörpernachweis einher, sondern auch mit typischen Borreliosebeschwerden: Den Hautsymptomen einer Acrodermatitis chronica atrophicans, einer Lyme-Arthritis mit Gelenkanschwellung statt wandernden diffusen Gelenkbeschwerden, oder auch der Neuroborreliose mit Gehirn- oder Rückenmarksentzündungen. In Einzelfällen könne auch der Erregernachweis aus der Hautbiopsie, dem Liquor- oder Gelenkspunktat bei der Diagnose hilfreich sein, auch wenn dessen Sensitivität begrenzt sei. Anhänger der DeuBo-Theorie argumentieren daher auch gerne, dass ein Erregernachweis nach ihrem Modell gar nicht funktionieren könne, weil die Borrelien in geringer Zahl an beliebigen Stellen im Körper persistierten. Die Behauptung, dass die Theorie richtig und nur der Nachweis schwierig sei, findet Rauer ärgerlich: „Da wird ganz einfach der Spieß umgedreht. Wenn ich eine Theorie aufstelle, die der gängigen Erfahrung widerspricht, muss ich auch sehr gute Gründe dafür haben. Und bei den gesicherten Diagnosen kennen wir keine solche Verläufe mit unspezifischen Symptomen.‟
Dass Borrelien resistent gegen Antibiotika werden, glaubt Rauer zwar eigentlich auch nicht. „Bei der akuten Borreliose haben wir noch nie eine Antibiotika-Resistenz beobachtet.“ Aber – schon allein weil Neuinfektionen denkbar seien – beim begründeten Verdacht auf eine anhaltende Borreliose könne genau wie bei einer Spätmanifestation durchaus noch einmal mit Antibiotika behandelt werden. „Wenn die Therapie aber nicht anschlägt, dann war es aber auch keine Borreliose“, sagt Rauer. Und wenn eine Antibiotikatherapie bei unspezifischen Symptomen dennoch vorübergehend Wirkung zeigt, sei das kein Beweis dafür. Vielmehr wirke ein leichter antientzündlicher Effekt sich auch auf Myalgien aus, die durch Verspannungen, oder gereizte Faszien und Muskelsehnenansätze ausgelöst werden. „Dann könnte man aber auch Ibuprofen geben.“ Der Therapieversuch mit Antibiotika sollte in jedem Fall zwei bis vier Wochen nicht übersteigen. Doch leider schießen die Behandlungen einer vermuteten chronischen Borreliose immer wieder über das Ziel hinaus. Zu Rauer kommen bisweilen Patienten, denen Langzeitherapien mit Antibiotika verordnet wurden – und zwar für gut 10.000 Euro als Selbstzahlerleistung. Das ist nicht nur teuer, sondern auch riskant: Es drohen erhebliche Nebenwirkungen. Andere bieten sogenannte Hitzetherapien an. „Davon ist ebenfalls abzuraten“, sagt Rauer. „Riskante Behandlungmethoden bei einem nach wie vor unbewiesenen Krankheitsmodell anzuwenden ist das, was mir am meisten Sorge macht. Es ist absolut unverantwortlich. Denn damit schadet man einfach nur den Patienten.“