Ob Anorexie, depressive oder emotionale Störung – die Fallzahlen unter Kinder und Jugendlichen steigen weiter an. Neben privaten Problemen seien zunehmend globale Konflikte dafür verantwortlich.
„Aber denkt doch an die Kinder.“ Wer die Mahnungen der vielen besorgten Bürger seiner Zeit noch in den Ohren hat, dürfte nach Veröffentlichung einer aktuellen Studien zu den Inzidenztrends psychischer Erkrankungen und Verhaltensstörungen bei Kindern und Jugendlichen an die Zeit zurückerinnert werden.
Im Namen von Public Health und Seuchenprävention wurden soziale Interaktionen eingeschränkt und Kontakte minimiert. Die nun statistisch belegte Folge: Eine überproportionale Zunahme neu diagnostizierter Depressionen und Anorexien. Zwar fasst die Studie den Zeitraum von 2014 bis 2021 zusammen, doch heben sich die Daten von 2019 bis 2021 nochmals deutlich ab: Während der Coronapandemie nahm die Inzidenz depressiver Störungen insgesamt um 27 Prozent zu. „Im gleichen Zeitraum nahm die Diagnoseinzidenz von Essstörung sogar um 74 Prozent zu. 2021 sind bei jugendlichen Mädchen Essstörungen 14-mal häufiger vertragsärztlich diagnostiziert worden als bei Jungen.“
„Die von uns ausgewerteten Abrechnungsdaten deuten wie andere Public Health-Studien zuvor auf eine zum Teil erhebliche Verschlechterung der psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in den Corona-Pandemiejahren 2020 und 2021 hin“, sagte der Vorstandsvorsitzende des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung Dr. Dominik von Stillfried. „Insgesamt haben wir dabei Einblick in die vertragsärztlichen und -psychotherapeutischen Gesundheitsdaten von knapp 12 Millionen jungen Versicherten und damit 84 Prozent der jungen Bevölkerung in Deutschland nehmen können – von der Geburt bis an die Schwelle zur Volljährigkeit.“
Als Datengrundlage dienten den Forschern die bundesweiten pseudonymisierten, krankenkassenübergreifenden vertragsärztlichen und -psychotherapeutischen Abrechnungsdaten. Als erkrankt zählten Kinder und Jugendlichen, wenn sie eine entsprechende Diagnose erhielten und eine zugehörige Leistung abgerechnet wurde. Dass hinter der Datenbasis eine größere Dunkelziffer stehen muss, wird bei den Kriterien schnell klar.
Insbesondere mit Zunahme weiterer globaler Konflikte, steige auch die Fallzahl weiß Stillfried: „2022 kam mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine eine weitere globale Krise hinzu, die neben der an Schärfe gewinnenden gesellschaftlichen Debatte um die internationalen Klimaziele potenziell negativen Einfluss auf die mentale Befindlichkeit der jüngeren Bevölkerung in Deutschland haben kann. Kindheit und Jugend stellen aufgrund ihrer spezifischen Entwicklungsschritte sowie wachsender altersabhängiger Anforderungen eine besonders vulnerable Lebensphase dar, die sowohl auf die körperliche als auch die seelische Gesundheit im weiteren Lebenslauf Einfluss nehmen kann.“
Ein ähnliches Bild zeichnen die Ergebnisse, die das statistische Bundesamt jüngst veröffentlichte. Demnach steige auch der Anteil von Behandlungen an psychischen Erkrankungen und Verhaltensstörungen bei Jugendlichen kontinuierlich an. Bei den 10- bis 17-Jährigen sei dies gar der häufigste Grund für einen Krankenhausaufenthalt. Während im Jahr 2011 von den 588.300 Klinikaufenthalten noch 75.200 auf die Diagnosen zurückzuführen waren, sind es im Jahr 2021 bereits 81.000 von 427.600. Ursächlich für Verhaltensstörungen seien unter anderem Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen. Diese können laut Bericht durch das Eintreten von außergewöhnlich belastenden Lebensereignissen hervorgerufen werden oder durch besondere Veränderungen im Leben, die zu einer anhaltend unangenehmen Situation führen.
Dass die Krankenhausaufenthalte im Ganzen in den Jahren 2020 und 2021 eine sinkende Tendenz aufzeigten, sei allein der Pandemie geschuldet und kein Hinweis auf einen allgemeinen Trend. Viel eher ist mit Blick auf die Gesamtzahlen an Verhaltensstörungen seit 2019 eine Stagnation und seit 2021 ein Wiederanstieg zu beobachten, nachdem die Zahlen zuvor im Schnitt jährlich um durchschnittlich 1,2 % fielen.
Entsprechend brauche es Daten zu späteren Zeitpunkten, um eine umfassendere Einordnung machen zu können. Aus beiden Studien lässt sich notwendiger (gesundheitspolitischer) Handlungsbedarf formulieren, den Stillfried stellvertretend für die Ergebnisse des Zentralinstituts formuliert: „Auch und gerade vor [dem] Hintergrund [einer schwierigen Lebensphase] kann unsere aktuelle Studie den Blick dafür schärfen, die Entwicklung der psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen sehr sorgfältig zu beobachten und frühzeitig geeignete Präventions- und Versorgungsmaßnahmen zu ergreifen.“
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