Meine Kollegin sagt es so schön: „Palliativmedizin ist wie ein Mantel, in den der Patient sich kuscheln kann.“ Das klingt sehr nett, ist aber in Wahrheit nicht so einfach – denn der Stoff reicht nicht für alle.
Wie ich ja schon häufiger beschrieben habe, verschärft sich der Landarztmangel gerade zunehmend. Das kommt nicht unerwartet, aber etwas früher und heftiger als erhofft. Mein Problem ist jetzt, dass ich überlegen muss, wo meine Prioritäten liegen. Und da kommt jetzt (leider wieder) mein Problem mit der Palliativmedizin. Eine befreundete Kollegin hat dankenswerterweise hier die Koordination der allgemeinen Palliativversorgung übernommen und möchte diese jetzt gerne aufbauen. Sie ist wirklich mit Herzblut dabei und es ist beeindruckend und toll, wie sehr sie sich da reinhängt.
Sie betont auch immer, dass die Palliativmedizin wie ein Mantel ist, den man über den Patienten legt und in den man sich einkuscheln kann. Um bei dem Bild zu bleiben: Mein Eindruck ist leider, dass ich nicht genug Stoff zur Verfügung habe. Wenn ich einer Person einen Kuschel-Mantel umlege, fehlt es an Stoff, um anderen Leuten die Kleidung zu schneidern – auch wenn die eigentlich weniger Stoff brauchen.
Worum geht es konkret? Eigentlich ist menschlich schön (und auch politisch gewollt und fiskalisch unterstützt), wenn es eine flächendeckende palliativmedizinische Versorgung gäbe, damit Patienten, die zu Hause sterben wollen, auch ausreichend unterstützt werden können und diesen Wunsch erfüllt bekommen. Das Problem: Palliativmedizin ist unheimlich ressourcenintensiv. Ich hab von einer Palliativmedizinerin im Spezial-Palliativ-Bereich (SAPV) gehört, die pro Woche 12 Patienten versorgt. Das ist bestimmt schön, weil man sich wirklich Zeit nehmen und auch ganz anders auf die Bedürfnisse der Patienten eingehen kann. Das soll jetzt in keiner Weise die emotionale Belastung bestreiten, die sich manchmal gerade bei jüngeren Palliativpatienten für das behandelnde Team ergibt.
Aber wie sollen wir das zusätzlich leisten? Ich bin jetzt schon mit der Patientenanzahl am Anschlag und täglich rufen noch mehr an, die keinen Hausarzt (mehr) haben. In einer idealen Welt hätte ich genug Personal und Zeit, dass ich beides leisten kann. Aber leider lebe ich in einer Welt, in der meine „Vormittage“ in der Infektsaison schon jetzt von 7:30–14:30 Uhr dauern – und dann beginnt um 16 Uhr die Nachmittagssprechstunde. Und da sollen jetzt noch mehr Palliativhausbesuche zu kommen? Denn zwar umfasst der Ausbau des Netzwerkes zwar eine erhöhte Vergütung (nach entsprechender Weiterbildung), aber leider nicht mehr ärztliches Personal; und auch unsere Pflegedienste sind jetzt schon am Anschlag.
Um es mal ganz blöde zu formulieren: Wenn ich aufgrund der Palliativversorgung meine reguläre Sprechstunde einschränke und mir deswegen nicht mehr die Zeit nehmen kann, um Leute zur Prävention und zur Vorsorge (z. B. Darmspiegelung, von der viele erst überzeugt werden müssen) anzuhalten und nur noch akute Beschwerden behandle, dann werde ich, platt gesagt, in absehbarer Zeit viele Palliativpatienten haben, da Tumoren zu spät erkannt wurden. Schon jetzt nehmen Tumorerkrankungen – gerade Darmkrebs – zu (und zwar vor allem bei jüngeren Leuten)!
Genau das ist mein Problem: Ich finde die Palliativmedizin sehr wichtig, aber wenn sie mir noch mehr ärztliche Ressourcen von der Standard-Versorgung wegnimmt, sehe ich das problematisch. Wir haben jetzt schon nicht genug Personal. Und ist es dann fair, den jetzigen Palliativpatienten so viele Ressourcen zuzuteilen, wenn ich weiß, dass ich damit den regulären Patienten Ressourcen wegnehmen muss, weil auch mein Tag nur 24 Stunden hat? Damit riskiere ich, dass die Patienten, die später diagnostiziert werden, in ein paar Jahren schlechter versorgt werden – denn diese intensive Palliativbetreuung funktioniert ja auch nur für eine sehr begrenzte Anzahl von Patienten (bei gleichbleibendem Personal). Und auch das ist ja eine Realität der Palliativversorgung: Es wird immer wieder betont, dass in den Palliativnetzwerken nur die Patienten versorgt werden (können), die vom Hausarzt dort angemeldet werden. Wobei ja der Hausarzt auch weiter versorgen soll, nur das, was wirklich palliativmedizinisch ist, übernimmt das Netzwerk.
Und was ist, wenn die Patienten keinen Hausarzt (mehr) haben? Denn lokale Hausärzte nehmen oft keine neuen Patienten mehr an (auch keine Zugezogenen, die einfach nicht mehr zu ihrem alten Hausarzt fahren KÖNNEN, weil der zu weit weg ist). Hausärzte müssen sich ja um die aktuellen Palliativpatienten kümmern. „Wer zuerst kommt, mahlt zuerst“ – ohne Hausarzt keine Aufnahme ins Palliativnetz.
Ich hab das bei den Coronaimpfungen sehr stark empfunden, weil wir auch Patienten ein Impfangebot gemacht haben, die nicht bei uns in der Praxis waren. Da waren viele, die einfach keinen Hausarzt hatten und die dann Probleme hatten, in die entsprechenden Strukturen reinzukommen. Und da ging es nur um eine kurze Impfung, nicht um eine dauerhafte, zeitintensive Versorgung. Inzwischen rufen teilweise Krankenhäuser bei uns an, weil ein Patient akut aufgenommen wurde und jetzt dringend einen Hausarzt braucht – und zwar nicht nur bei palliativer Versorgung, sondern auch „einfach so“ (z. B. bei einem schweren Ulcus cruris). Das ist nicht palliativ, aber trotzdem absolut notwendig. Und ich will auch kein Patientenleid gegeneinander aufrechnen – ich komme mir schon jetzt vor wie in einer konstanten Triage-Situation: Wer braucht mich am dringendsten und wie kann ich meine Ressourcen am besten für alle einsetzen? Das ist grauenhaft und nagt konstant am Gewissen.
Ich finde da auch aktuell für mich keine wirkliche Lösung, außer der Tatsache, dass ich nur versuchen kann, mehr Ärzte für unsere Region zu gewinnen. Denn so reicht es einfach nicht für alle – so bitter das auch ist.
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