Ich fühle mich wie ein Juror in einer Casting-Show – denn in unserer Praxis rufen gerade gut 20 Leute pro Woche an, die einen neuen Hausarzt suchen. Wie entscheide ich, wer in die nächste Runde kommt?
Ein Konzept, dass mir bis heute schleierhaft bleibt, sind Dating-/Casting-Shows. Aus einer Menge an Bewerbern wird am Ende ausgewählt, indem Blumen oder Fotos oder sowas verteilt werden. Dafür sollen die Teilnehmer dann alle möglichen Dinge tun, um sich zu qualifizieren. Mein Problem ist aktuell: Ich komme mir vor, als wäre ich Juror in einer abstrusen Patienten-Arzt-Datingshow, bei der ich am Ende irgendwen auswählen muss. Und das fühlt sich echt mies an.
Aber erstmal langsam und von vorne: Inzwischen hat sich in der Praxis alles soweit eingespielt, der Alltag läuft, wir arbeiten daran, die Arbeitsabläufe noch zu optimieren, aber es scheinen alle zufrieden zu sein.
Nun ist es aber so, dass inzwischen pro Woche ca. 15 bis 20 Anfragen für Neupatienten kommen. Einerseits, weil unsere Region entgegen aller Prognosen eher wächst, so dass Leute von weiter weg hier hinziehen und ihr alter Hausarzt jetzt plötzlich 80 km oder weiter weg ist. Andererseits, weil eine Kollegin aus dem Nachbardorf jetzt ihre psychotherapeutische Tätigkeit erweitert und dafür ihre hausärztliche Tätigkeit komplett eingestellt hat. Was das Fass zum Überlaufen bringt: Im benachbarten Landkreis schließt eine Kollegin ohne Nachfolger ihre Praxis. Die wenigen lokalen Praxen haben so viel genommen, wie es ging. Aber letztlich ist es eine einfache Rechnung: Die KV rechnet mit einem Hausarzt pro ca. 1.500 bis 1.600 Einwohner. Wenn also eine Praxis ohne Nachfolger schließt, müssen sich diese 1.500 Leute auf die umliegenden Praxen verteilen. Selbst wenn wir also jetzt von zehn umliegenden Praxen ausgehen (was viel zu hoch ist!), die diese Patienten mit abfangen, kommen wir auf 150 neue Patienten pro Praxis. Plus die Zugezogenen.
Wechsler, also Leute, die eigentlich einen Hausarzt haben, versuche ich schon direkt abzulehnen. Aber es ist so, dass die manchmal erst als Vertretungspatienten kommen, weil der Hausarzt in Urlaub ist, und dann einfach im Verlauf wiederkommen, obwohl der Hausarzt wieder da ist. Und dann muss man das a) im laufenden Betrieb mitbekommen und b) jemanden, der Hilfe sucht, aktiv wegschicken – auch nicht wirklich etwas, was man gerne tut. Ich hatte es sogar schon, dass mich Angehörige explizit angelogen haben („Die Patientin ist aus der Großstadt hier ins Heim gekommen“, dabei war sie von ihrer bisherigen Hausärztin dort in Kurzzeitpflege geschickt worden), damit sie bei uns Patient werden konnte! Das haben wir, nachdem das rausgekommen war, nachträglich abgelehnt.
Die freie Arztwahl ist so eine Art Heiligtum der deutschen Medizin. Definition laut Bundesgesundheitsministerium: „Versicherte in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) können in Deutschland grundsätzlich die sie behandelnden Ärztinnen und Ärzte frei wählen“ – unter den zugelassenen Ärzten wohlgemerkt. Da sind wir Deutschen auch sehr stolz drauf („Das ist nicht selbstverständlich, denn in vielen europäischen Ländern gilt das Prinzip der freien Arztwahl nicht oder nur sehr eingeschränkt.“)
Es ist schön und natürlich auch ein tolles Kompliment, wenn viele Patienten unsere Praxis auswählen. Aber auch wir sind in den Kapazitäten begrenzt und können schlichtweg nicht alle nehmen, die uns auswählen wollen. Wie soll das denn bitte funktionieren? Wir haben jetzt schon einen (Land-)Arztmangel und der wird gerade massiv schlimmer. „Der Schelm gibt mehr als er hat“, sagte meine Oma immer. Und wir haben schlichtweg nicht genug Platz (physisch und personell), um all die Leute zu versorgen, die bei uns anrufen.
Deswegen komme ich mir inzwischen so blöd vor, weil es schwer ist, Kriterien festzulegen, wer kommen darf. Bei akuten Beschwerden muss ich eh versorgen. Also einfach alles ablehnen darf ich nicht und wenn sich rumspricht, dass man als Notfall besser in unsere Praxis rein kommt, werde ich plötzlich eine horrende Anzahl an „Notfällen“ vor der Tür haben. Also lieber irgendwie geplant aufnehmen. Meine aktuellen Kriterien: Als erstes die Leute aus unserer Gemeinde (ist einfach der Einzugsbereich und gerade in Bezug auf Hausbesuchsdistanzen auch ein wichtiger Faktor). Wir sind ein Flächenkreis und die Anfahrten allein in unserer Gemeinde dauern gerne mal 20 min und mehr, so dass ich es mir gar nicht leisten kann, den Radius noch weiter zu erweitern. Und, wie gesagt, keine Wechsler!
Danach werden die Kriterien schwammig. Natürlich kann ich mehr junge, fitte Patienten ohne Vorerkrankungen versorgen pro Zeiteinheit (bin also effizienter). Aber die können auch eher mal weiter fahren – die älteren und kränkeren brauchen dringender Hilfe. Gleichzeitig kann ich eben nicht zu viele Hausbesuchspatienten nehmen, weil das einfach so viel Zeit kostet.
Was für mich überhaupt kein Kriterium ist: der Versicherungsstatus. Ich finde, gerade die Privatpatienten, die glauben, sie seien etwas Besseres und als erstes auf ihrem Versicherungsstatus beharren, eine absolute Zumutung. Ich behandle Patienten, keinen Versicherungsstatus. Fertig. Da ergeben sich schon mal seltsame Wortwechsel. Eine Patientin fragte, ob ihr Ehemann (jetzt in Rente, bisher weit gependelt, deswegen zu weite Strecke zum Hausarzt) auch zu uns kommen könnte. Als ich schon zugesagt hatte, kam noch so als Nachsatz „und er ist auch privat“. Meine spontane Antwort – „Ich behandle ihn trotzdem“ – brachte die Ehefrau zum Lachen und sie meinte, dass sie gerade das bei uns so schätze, nämlich dass wir behandeln, ohne darum ein großes Aufheben zu machen. Um das aber nochmal klar zu machen: Der absolute Löwenanteil unserer Privatpatienten ist genauso nett wie die GKV-Versicherten und macht auch keinen großen Aufwand um ihre Versicherung. Aber ja, es gibt eine Minderheit, die da leider den Ruf kaputtmacht.
Was ich schon den GKV-Patienten sage: Wenn sie zu uns möchten, sollen sie bitte in die Hausarztverträge (HZV) gehen. Ich habe zwei angestellte Fachärzte und auch sehr gut qualifizierte MFAs (z. B. VERAHs) und um alle gut bezahlen zu können, bin ich froh über die Hausarztverträge. Denn das merke ich schon in der Abrechnung: Ich bekomme für die HZV-Patienten im Schnitt ungefähr das Anderthalbfache von dem, was ich als Kassenschnitt habe.
Und ich glaube auch, dass das System des Primärarztes, der Kleinigkeiten selbst behandelt und gezielt als Lotse zu den Fachärzten schickt, absolut sinnvoll ist. Wenn jeder seinen Job gut macht, werden die Leute besser versorgt und es gibt schnellere Facharzttermine, weil sich der Facharzt nicht mit hausärztlichem Kram rumschlagen muss. Win-Win – eigentlich Win-Win-Win, denn die Krankenkassen kommen dabei wohl auch günstiger weg – weniger unnötige Facharztüberweisungen, weniger Doppeluntersuchungen, weniger Krankenhauseinweisungen.
Aber nein, ich zwinge meine Patienten nicht dazu – und die Dinge, die ich als Hausärztin für die HZV bereitstellen muss (z. B. Öffnungszeiten für Berufstätige), sperre ich auch nicht für normal GKV-Versicherten. Das führte vor kurzem dazu, dass mich eine Patientin fragte, was SIE denn selbst davon habe, in den Hausarzttarif zu gehen. Meine spontane Antwort: „Da wir es unethisch finden, da zu differenzieren, haben Sie persönlich keine bessere Versorgung – aber Sie sorgen dafür, dass die Versorgung für alle so gut erhalten bleiben kann. Ganz ohne die HZV könnte ich meine Mitarbeiter nicht so bezahlen.“ Mich hat das schon beschäftigt. Müsste ich jetzt aus wirtschaftlichen Gründen die Leute zwingen, indem ich bestimmte Leistungen wirklich explizit NUR für HZV anbiete? Das wäre aber für mich eine Zwei-Klassen-Medizin durch die Hintertür – und glücklicherweise sind die Patienten mit uns so zufrieden, dass sie alle freiwillig in den HZV gehen (wie bei meinem alten Chef ja schon).
Wobei auch da die unterschiedlichen Reaktionen die volle Bandbreite umfassen: Von diesem schnippischen „Was hab ich davon“ bis hin zu einem Patienten, der so dankbar ist, dass ich ihn noch übernommen habe, dass er mir jedes Mal Blumen mitbringt. Andere bringen Kuchen und erst gestern hatte ich einen Patienten, der seine Dankbarkeit ausgedrückt hat, dass ich das alles jetzt weiterführe. Oder eben auch Patienten, die am Telefon das Weinen kaum unterdrücken können, wenn man sagt, dass man sie nicht auch noch übernehmen kann und nicht wissen, wohin sie sich wenden können. Ich fühl mich dabei nicht gut – ich möchte ja gern helfen – aber ohne Auswahl geht es leider hier nicht mehr.
Meine aktuelle Lösung: Ich versuche, mir selbst Konkurrenz zu machen. Ich engagiere mich dafür, dass hier andere Anbieter (z. B. der Hausärzteverband) zusätzlich allgemeinmedizinische Praxen eröffnen, damit alle wieder einen Platz finden. Aber das ist auch schwierig und langwierig. Bis dahin muss ich weiter casten – „Ich habe heute leider kein Rezept für Sie.“
Bildquelle: Jayson Hinrichsen, unsplash