Menschen mit Übergewicht und Adipositas können unter verstecktem Muskelschwund leiden – das ist alles andere als harmlos. Wie die Diagnose gelingt, erfahrt ihr hier.
Menschen mit Übergewicht und Adipositas bringen nicht nur zu viele Kilos auf die Waage. Sie können auch an schleichendem Muskelschwund leiden. Die Hauptursache dafür ist Bewegungsmangel. Doch wegen der Fettschicht bleibt der Muskelschwund (Sarkopenie) oft verborgen und wird nicht entdeckt. Dadurch ist das Krankheitsbild der sarkopenen Adipositas bisher kaum bekannt und wird auch bei der Behandlung der Adipositas kaum berücksichtigt. Allerdings kann eine Sarkopenie zu deutlichen Folgeproblemen führen: Die Betroffenen werden anfälliger für verschiedene Krankheiten und ihre Lebenserwartung sinkt.
„Dieser Aspekt hat auch in der Corona-Pandemie eine Rolle gespielt“, sagt Prof. Stephan Bischoff, Leiter des Instituts für Ernährungsmedizin und Prävention an der Universität Hohenheim in Stuttgart. „Da der Muskelschwund auch bei der Atemmuskulatur auftritt, kam es bei Corona-Patienten mit Adipositas wegen ihrer geringeren Atemleistung häufiger zu schweren Krankheitsverläufen.“
Bischoff ist Teil eines internationalen Experten-Panels, das in einem vierstufigen Konsensus-Gespräch eine klinische Definition der sarkopenen Adipositas erarbeitete und festgelegt hat, welche Diagnoseverfahren sinnvoll sind. Die Expertenrunde wurde von zwei Fachgesellschaften, der European Society for Clinical Nutrition and Metabolism (ESPEN) und der European Association for the Study of Obesity (EASO) initiiert und von Prof. Lorenzo Donini von der Universität Sapienza in Rom koordiniert. Insgesamt nahmen mehr als 30 Experten aus verschiedenen Fachgebieten und aus 16 Ländern Europas und Übersee teil. Die Ergebnisse veröffentlichten die Experten in den Zeitschriften Clinical Nutrition und Obesity Facts.
Bisher wurde das Phänomen Muskelschwund aufgrund von Bewegungsmangel vor allem bei älteren Menschen, bei chronischen Krankheiten wie Krebs, Herzinsuffizienz oder Diabetes und bei längeren Phasen von Unbeweglichkeit – etwa bei längerer Bettlägerigkeit oder beim Tragen eines Gipsverbandes – beobachtet.
„Die Erkenntnis, dass es bei Adipositas zu Muskelschwund kommen kann, ist nicht ganz neu“, erläutert Bischoff. „Aber sie ist wenig im Bewusstsein der Betroffenen und der Fachkräfte. Neu ist zudem die Erkenntnis, dass auch junge Menschen mit Übergewicht oder Adipositas unter Muskelschwund leiden können.“ Mit zunehmendem Körpergewicht steige die Muskelmasse zunächst einmal an, um die Gewichtszunahme auszugleichen, erläutert der Experte. Anschließend erreiche sie jedoch einen Kipp-Punkt, ab dem sie wegen Bewegungsmangels wieder abnehme. „Bei Adipositas mit Bewegungsmangel tritt Sarkopenie am ehesten auf, aber auch ohne Bewegungsmangel kann es zu einer Sarkopenie kommen“, so Bischoff. „Patientinnen und Patienten mit Muskelschwund sind deutlich anfälliger für Krankheiten und auch die Lebenserwartung sinkt.“ So steigt etwa das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Osteoporose.
Zur Diagnostik der sarkopenen Adipositas empfiehlt das Experten-Team, den Anteil von Fett- und Muskelmasse im Körper zu bestimmen und zudem die Muskelfunktion zu messen. „Dies könnte als Screening für Sarkopenie in Zukunft bei allen Patienten mit Adipositas eingesetzt werden“, sagt Bischoff. Zur Bestimmung der Körperzusammensetzung kann die bioelektrische Impedanzanalyse (BIA) verwendet werden. Das Gerät leitet einen schwachen Strom zwischen einer Hand und einem Fuß durch den Körper. Auf diese Weise können der Fett- und Muskel-Anteil im Körper bestimmt werden. Als Alternative können Messungen im Magnetresonanztomographen (MRT) durchgeführt werden.
Um die Muskelfunktion zu messen, können verschiedene standardisierte Tests eingesetzt werden. Dabei wird zum Beispiel bestimmt, welche Gehstrecke die Betroffenen in sechs Minuten zurücklegen können oder wie oft sie in einer Minute aufstehen und sich wieder hinsetzen können. „Von einer sarkopenen Adipositas sprechen wir dann, wenn sowohl der Anteil an Muskelmasse zu niedrig als auch die Muskelfunktion bereits beeinträchtigt ist“, sagt Bischoff. Bei der endgültigen Diagnose werden noch Alter, Geschlecht und die ethnische Zugehörigkeit berücksichtigt.
Wie die sarkopene Adipositas am besten behandelt werden könnte, ist im Moment noch unklar und Gegenstand der Forschung. Es zeichnet sich aber ab, dass eine Kombination aus Kraftsport und eiweißreicher Ernährung sinnvoll sein könnte, um dem Muskelschwund entgegenzuwirken und Muskelmasse wieder aufzubauen. „Aus der Adipositas-Behandlung kennen wir bereits einige Programme zur Gewichtsreduzierung. Eines davon wenden wir seit rund 20 Jahre erfolgreich an der Universität Hohenheim an“, berichtet Bischoff. „Nun müssen wir noch mehr darauf achten, dass die Muskelmasse bei der Gewichtsabnahme möglichst erhalten bleibt bzw. wieder aufgebaut wird. Am aussichtsreichsten dafür erscheint eine Kombination aus Krafttraining und proteinreicher Ernährung.“ So scheine Krafttraining – etwa Gewichte zu stemmen, wie es Bodybuilder tun – zum Aufbau von Muskulatur besser geeignet zu sein als ein Ausdauertraining.
„Proteinreiche Kost haben wir bislang vor allem deshalb empfohlen, weil sie schnell den Hunger stillt und daher ein erfolgreiches Abnehmen fördert“, sagt der Ernährungsexperte. Wichtig sei der Aspekt der Ernährung auch bei chirurgischen Maßnahmen bei Adipositas, etwa einer Magenverkleinerung oder einer Verkürzung des Darms: Weil Proteine sehr stark sättigen, sei es für die Patienten schwierig, ausreichende Mengen davon zu sich zu nehmen. In solchen Fällen seien eine viel intensivere Nachsorge und eine aktive Betreuung der Patienten notwendig, betont Bischoff.
Auch die Patienten zu mehr Bewegung zu motivieren, sei nicht ganz einfach. „In einer ersten Studie zusammen mit dem Universitätsklinikum Tübingen haben wir versucht, die Betroffenen zum Training in Eigenregie zu ermutigen“, berichtet Bischoff. Dazu erhielten sie eine Spielekonsole (Wii-Konsole) und entsprechende Trainingsprogramme. Die Erfolge seien jedoch mäßig gewesen. Hier müssten noch Ansätze gefunden werden, um Menschen mit sarkopener Adipositas zu mehr Bewegung, insbesondere zu einer regelmäßigen Durchführung von Kraftübungen, zu motivieren. „Das ist zwar schwierig, aber nicht unmöglich“, sagt Bischoff.
Angesichts der Häufigkeit von Übergewicht ist die sarkopene Adipositas ein relevantes Problem: In Deutschland ist etwa die Hälfte der Bevölkerung von Übergewicht und etwa ein Viertel von Adipositas betroffen. Bei Adipositas ist das Übergewicht so stark ausgeprägt, dass das Risiko für Folgeerkrankungen deutlich erhöht ist und auch das Übergewicht selbst als Krankheit eingestuft wird. Von Adipositas spricht man laut der WHO bei einem Body-Mass-Index (BMI) von 30 oder höher, von Übergewicht bei einem BMI von 25 bis 29,9.
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