Sind wir rücksichtslose Idioten, wenn wir mit Martinshorn und Blaulicht durch die Nacht rasen und damit Hans-Günter und seine Marianne um den Schlaf bringen? Nein – und ich erklär euch jetzt mal, warum nicht.
In Weinheim haben sich Anwohner über die laute Feuerwehr beschwert. Wegen Ruhestörung. Ja, das klingt genauso bescheuert, wie es ist. Und es zeigt zwei Dinge – wie wenig Menschen über Abläufe im Rettungsdienst wissen und wie egoistisch sie geworden sind. Das Unwissen über den Rettungsdienst und gewisse Abläufe in der Notfallmedizin sorgt für Unverständnis und Wut. Würde man diesen Leuten erklären, warum wir gewisse Dinge machen, wie wir sie nun mal machen, wären viele wahrscheinlich verständnisvoller.
Menschen fragen heute aber nicht mehr nach, sie bilden sich eine Meinung und sind dann zum Beispiel der Meinung, dass wir rücksichtslose Idioten sind, die mit irrsinniger Geschwindigkeit durch die Stadt rasen wollen und dafür auch den Nachtschlaf von Hans-Günter und seiner Marianne opfern. Egoismus ist eine Seuche und die Geschwindigkeit, mit der wir Menschen uns voneinander entfernen, ist erschreckend. Darum soll es hier aber nicht gehen. Warum sind die Feuerwehrleute also keine grenzdebilen Idioten, sondern durch das Gesetz dazu verpflichtet, genau das zu tun, was sie taten?
Die Leitstelle kann über die 112 einen Notruf annehmen. Der Disponent in der Leitstelle legt dann fest, ob der Notfall lebensbedrohlich ist und falls ja, welche Einsatzkräfte benötigt werden, um Schaden für Leib und Leben abzuwenden.
Jemand hat Luftnot – es werden ein Rettungswagen und ein Notarzteinsatzfahrzeug losgeschickt. Das passiert über einen Melder, auf dem im Wesentlichen ein Stichwort wie z. B. „Luftnot“ und die Adresse des Meldenden stehen. Die Einsatzkräfte fahren also los, ohne Näheres über den Einsatz zu wissen. Müssen sie auch nicht, die Dringlichkeit wurde von der Leitstelle festgelegt. Deshalb kann ich auch als Notarzt nicht einfach sagen: „Da fahren wir mal ohne Martinshorn hin.“ Aber eins nach dem anderen.
Die Dringlichkeit des Notfalls wird durch die Leitstelle festgelegt. Bei der Polizei heißt das „Leib und Leben“, bei uns meist „Fahrt mit Sondersignal“. Genau genommen legt die Leitstelle fest: Zur Beantwortung dieses Notrufs werdet ihr von den Vorschriften der Straßenverkehrsordnung befreit. Wir müssen uns also z. B. nicht mehr an die Geschwindigkeitsbegrenzungen halten und dürfen auch im absoluten Halteverbot halten.
Lediglich über geschlossene Bahnschranken fahren wir nicht – ein Zug kann nicht mal eben anhalten und hat daher immer Vorfahrt. Also warten wir an einer geschlossenen Bahnschranke und fahren dann weiter. Flugzeuge auf dem Rollfeld haben übrigens auch immer Vorfahrt.
Wir dürfen damit fast alles. Weil das aber nicht reicht, um schnell durch den Verkehr zu kommen, gibt es neben dem Sonderrecht noch das Wegerecht. Das bedeutet, dass andere Verkehrsteilnehmer uns Platz machen sollen. Rechts ranfahren, an einer Ampel anhalten, obwohl wir rot und die anderen grün haben und so weiter.
Andere Verkehrsteilnehmer können aber nicht riechen, dass wir gerade im Auftrag der Leitstelle unterwegs sind und damit sie das auch sicher erkennen, schreibt der Gesetzgeber in §38 genau vor, unter welchen Bedingungen wir dieses Wegerecht haben – und zwar „blaues Blinklicht zusammen mit dem Einsatzhorn“. Nicht blaues Blinklicht alleine, nicht Einsatzhorn alleine – nein, blaues Blinklicht zusammen mit dem Einsatzhorn. Nun lassen wir immer mal wieder das Einsatzhorn, im Volksmund auch Martinshorn genannt, aus. Und zwar deshalb, weil es einfach unfassbar laut ist und alle Menschen und Tiere im Umkreis von 100–200 Metern weckt. Das ist Mist und das machen wir echt nicht gerne. Aber der Gesetzgeber lässt uns keine andere Wahl. In jedem Rettungsdienstbezirk kann irgendjemand eine Geschichte davon erzählen, wie es zu einem Unfall kam und genau geschaut wurde, ob zum Zeitpunkt des Unfalls Blaulicht UND Martinshorn eingeschaltet waren. Ohne Martinshorn kein Wegerecht, was bei einem Schaden sehr unangenehm werden kann.
Im juristischen Kommentar heißt es „Lärmvermeidung ist ein edles Ansinnen, kann aber persönlich teuer werden.“ In diesem Fall 18.600 Euro, die der Polizeibeamte aus der eigenen Tasche zahlen muss.
Ich würde es sehr begrüßen, wenn uns der Gesetzgeber beispielsweise mit Eintritt der Dämmerung erlauben würde, das Wegerecht auch nur mit eingeschaltetem Blaulicht ohne Martinshorn in Anspruch nehmen zu dürfen. So lange das nicht geregelt ist, werden wir auch nachts niederschwellig das Martinshorn einschalten. Genau genommen müssten wir von der Wache bis zum Einsatzort mit Blaulicht UND Martinshorn fahren. Dass wir es zwischendurch ausschalten, ist schon ein Entgegenkommen unsererseits. Wir nehmen dabei ein enormes Risiko auf uns, nämlich, dass wir bei einem Schaden auf der Schadenssumme sitzen bleiben.
Da kann ja jeder dieser egoistischen Wutbürger in Weinheim mal überlegen, wie weit die Nächstenliebe geht.
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