Das Diabetesmedikament soll Übergewicht reduzieren. Und Süchtigen helfen. Und jetzt auch noch das kardiovaskuläre Risiko senken. Aber ist es wirklich das langersehnte Wundermittel gegen Zivilisationskrankheiten?
Der Hype um das Abspeckmittel Semaglutid reißt nicht ab. Gestern gab Hersteller Novo Nordisk die mit Spannung erwarteten Ergebnisse der SELECT-Studie bekannt. In einer Pressemitteilung heißt es, dass Semaglutid das Risiko schwerer kardiovaskulärer Ereignisse bei Erwachsenen mit Übergewicht oder Adipositas um beeindruckende 20 % senken konnte.
In der Mitteilung des Herstellers ist die Rede von einer „Meilenstein-Studie“. Und da könnte tatsächlich etwas dran sein: Forscher und Mediziner gehen davon aus, dass die Ergebnisse einen großen Einfluss darauf haben werden, wie Kliniker die Behandlung von Patienten mit Übergewicht und Herz-Kreislauf-Erkrankungen in Zukunft angehen werden. Prof. Stephen O’Rahilly, Direktor der MRC Metabolic Diseases Unit von der University of Cambridge, meint: „Die Ergebnisse dieser Studie wurden lange erwartet und enttäuschen nicht. […] Die offensichtliche Schlussfolgerung aus diesen Erkenntnissen ist, dass wir Adipositas als eine Krankheit betrachten sollten, ähnlich wie Hypertonie, bei der eine wirksame und sichere medikamentöse Therapie dazu beitragen kann, schwerwiegende Gesundheitsschäden zu verringern.“
Die SELECT-Studie startete 2018 und schloss rund 17.500 Erwachsene mit einem Mindesalter von 45 Jahren und einem BMI über 27 ein. Die Probanden hatten keinen Diabetes, aber eine bestehende kardiovaskuläre Erkrankung (CVD). Es war also keine breite Population aus übergewichtigen Menschen, sondern ein Hochrisikokollektiv mit nachgewiesenen Gefäßschäden.
Primärer Endpunkt war das Auftreten eines schweren kardiovaskulären Ereignisses (Major Adverse Cardiovascular Events, MACE), dazu zählten kardiovaskulärer Tod, nicht tödlicher Herzinfarkt und nicht tödlicher Schlaganfall. Die Teilnehmer erhielten entweder einmal wöchentlich eine subkutane Injektion von 2,4 mg Semaglutid oder ein Placebo. Die Beobachtungszeit war auf bis zu 5 Jahre angesetzt. Wie sich zeigte, verringerte sich bei Probanden der Semaglutid-Gruppe das Risiko eines MACE um 20 % verglichen mit Teilnehmern der Placebo-Gruppe. Noch sind die Ergebnisse in keinem Fachjournal erschienen; die Details der Studie sollen im November auf dem Kongress der American Heart Association vorgestellt werden. Der Aktienkurs von Novo Nordisk sprang derweil schon mal um 15 % nach oben.
Ob allein der Gewichtsverlust den kardiovaskulären Benefit erklären kann, ist übrigens nicht klar. Möglich ist auch, dass Semaglutid über andere Mechanismen das kardiovaskuläre Risiko senkt. Für diese These spricht, dass ein anderer GLP-1-Agonist namens Albiglutid bei Diabetikern mit kardiovaskulärer Erkrankung das MACE-Risiko in einer Studie ebenfalls senken konnte – obwohl das Medikament keine signifikanten Auswirkungen auf Körpergewicht und Blutzucker hatte.
Wenn die Publikation nach Peer-Review hält, was die Pressemitteilung verspricht, wäre das ein Grund mehr, die Fettweg-Spritzen aus der Ecke der Lifestyle-Medikamente herauszuholen – denn die werden von den Kassen bislang nicht erstattet. Doch selbst eine nachweislich lebensrettende Wirkung der neuen Adipositas-Medikamenten würde nichts an einem Kernproblem ändern: Für die Dauertherapie mit Wegovy® in der höchsten Erhaltungsdosis von 2,4 mg werden gemäß aktuellen AVP jeden Monat rund 300 Euro fällig. Das würde zumindest dann sehr teuer, wenn die Zielgruppe sehr breit ausfällt. Das wirkstoffgleiche Ozempic® ist allerdings deutlich günstiger.
Der regelrechte Run auf die Semaglutid-Präparate führt hierzulande schon jetzt zu massiven Lieferschwierigkeiten – etwa für Ozempic®, das seit einigen Jahren für die Behandlung von Typ-2-Diabetes eingesetzt wird. Weil Ärzte das Inkretin-Mimetikum vermehrt Off-Label zur Behandlung von Adipositas einsetzen, reagierte das BfArM bereits mit verschärften Abgaberegelungen, um die Versorgung von Diabetes-Patienten nicht zu gefährden (DocCheck berichtete).
In den USA haben offenbar auch Psychiater das Mittel für sich entdeckt, wie Reuters berichtet. Viele Antipsychotika und Stimmungsstabilisatoren können bei Patienten zu einer erheblichen Gewichtszunahme führen und zur Entwicklung von Diabetes und Herzerkrankungen beitragen. Deswegen greifen einige Psychiater zu Semaglutid, um diese Nebenwirkung in den Griff zu bekommen. Die US-Arzneimittelbehörde FDA warnt Ärzte derweil, Patienten, die das Medikament einnehmen, auf die Entwicklung von Depression oder Suizidgedanken zu überwachen. Der Sicherheitsausschuss der EMA überprüft derzeit mehrere Berichte über einen möglichen Zusammenhang zwischen Suizidgedanken und Semaglutid (DocCheck berichtete).
Wissenschaftler untersuchen derweil eine weitere – eher überraschende – Nebenwirkung. Patienten, die die Abspeck-Mittel einnehmen, scheinen nicht nur weniger Appetit zu haben, ihnen vergehen offenbar auch andere Gelüste: Menschen mit problematischem Alkoholkonsum etwa greifen unter Semaglutid viel seltener zur Flasche. Patienten berichten zudem, dass sie das Interesse an einer ganzen Reihe von Sucht- und zwanghaftem Verhalten verloren haben, wie zum Beispiel exzessivem Shopping oder Nägelkauen.
Sind Forscher also aus Versehen auf ein Anti-Sucht-Mittel gestoßen? Möglich wärs. Tierexperimentelle Studien lassen darauf schließen, dass das Phänomen vermutlich auf eine hemmende Wirkung der GLP-1-Agonisten auf das Belohnungssystem zurückzuführen ist, genauer gesagt auf den Nucleus accumbens. Warten wir mal ab, welche Überraschungen die Abspeck-Mittel noch in petto haben.
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