Immer wieder höre ich von Leuten, dass sie eine „Rückenmarkspritze“ bekommen hätten. Da krümmen sich mir als Anästhesist und Intensivmediziner immer die Fußnägel. Zeit, mit diesem Mythos aufzuräumen.
Menschen erzählen sich abenteuerliche Dinge. Sie hören etwas, erzählen es weiter und irgendwann hält es sich so hartnäckig im Volksmund, dass es schwierig ist, es wieder loszuwerden. Für mich ist die „Rückenmarkspritze“ so ein Fall. Um es direkt zu sagen: Falls irgendwann, irgendjemand mal auf die Idee kommen sollte, irgendwas ins Rückenmark zu spritzen, dann möchte ich lieber nicht dabei sein. Das Rückenmark ist tabu, da wird nichts reingespritzt.
Das hindert Patienten aber nicht daran, genau das zu glauben bzw. zu berichten. Wie sie damals bei der Knie-OP dank einer Rückenmarkspritze schmerzfrei operiert werden konnten. Oder dass die Wehen dank der Rückenmarkspritze deutlich weniger schmerzhaft waren und auch der dann folgende Kaiserschnitt durch den Katheter im Rückenmark durchgeführt werden konnte. Menschen verwechseln aber auch Besitz und Eigentum und bereiten Juristen damit schlaflose Nächte. Das macht niemand mit Absicht, aber mich beschäftigt es, weil die Begrifflichkeit erstens komplett falsch ist und zweitens auch unnötige Ängste entstehen lässt.
Das Rückenmark ist aus gutem Grund tabu. Es ist die zentrale Verschaltung für alle Nervenbahnen, sowohl die abführenden als auch die aufsteigenden. Das Gehirn sagt darüber den Armen und Beinen, was sie tun sollen. Umgekehrt melden diese Nerven auch Informationen zurück ans Gehirn, zum Beispiel wenn und dass wir über heißen Sand laufen.
Das Rückenmark kann sogar manche Dinge selbst entscheiden. Tritt man beispielsweise mit dem linken Fuß in einen Nagel (oder in die Frisur einer Playmobilfigur – Eltern wissen, wovon ich rede), wird sich der rechte Fuß anspannen und der linke Fuß hochgezogen, bevor wir überhaupt gecheckt haben, in was wir da reingetreten sind.
Aber was machen wir denn jetzt da am Rücken? Hier gilt es, zwei gängige Techniken zu unterscheiden. Um das zu verstehen, müssen wir uns kurz den Aufbau vor Augen führen. Statt einer realistischen Zeichnung stellt euch mal folgendes Bild vor, auch wenn es nicht wirklich Sinn macht: Wir hätten eine Bockwurst in ihrem Wurstwasserglas und dieses würde in einem Topf stehen. Wir haben einen Wasserkocher, aber keinen Herd.
Wie könnte man jetzt die Wurst erhitzen?
Man könnte kochendes Wasser von oben in das Wurstwasserglas schütten. Hierfür würde man nicht viel Wasser benötigen – es würde reichen, das Wurstwasser im Glas durch vielleicht 300 ml kochendes Wasser zu ersetzen. Alternativ könnte man auch sehr viel kochendes Wasser in den Topf schütten, das würde dann irgendwann auch das Wurstwasser und dann die Wurst erhitzen. Dafür würde man ein Vielfaches an heißem Wasser – nämlich so etwa zwei bis drei Liter – benötigen, aber prinzipiell würde es funktionieren.
In unserem Beispiel ist die Bockwurst das Rückenmark. Das ist heilig, da wird nicht reingepikst. Niemals. Deshalb ist der Begriff Rückenmarkspritze auch etwas, bei dem sich jedem Anästhesisten die Fußnägel hochrollen.
Man kann aber zwischen den Wirbelkörpern hindurch in das Nervenwasser – in unserem Bild das Wurstwasser – eine Lokalanästhesie spritzen. Das nennt man Spinalanästhesie.
Da die Menge Nervenwasser, die das Rückenmark umgibt, sehr klein ist, sorgt bereits eine geringe Menge Lokalanästhesie für eine sehr effiziente Betäubung der Nerven. Um mal eine Hausnummer zu nennen: Etwa 2–3 ml eines Lokalanästhetikums reichen hier bereits aus, um den Bereich bis etwa unterhalb der Brustwarzen komplett zu betäuben. So sehr, dass man nicht mal mehr denkt, dass die eigenen Beine zu einem gehören. Jegliche Schmerzen sind ausgeschaltet und man könnte zum Beispiel einen Kaiserschnitt durchführen.
Die Wirkung setzt innerhalb von Minuten ein – schonend für die Mutter, schonend fürs Kind und wach kann man auch noch dabei sein. Es gibt seit einigen Jahren sogar Kliniken, die es den Müttern ermöglichen, ihr Kind so selbst durch den dann offenen Bauchschnitt zu „gebären“.
Die andere Möglichkeit wäre, wie gesagt, heißes Wasser in den Topf zu geben und indirekt das Wurstwasser zu erwärmen. Hier hinkt jetzt der Vergleich ein wenig, aber bei der zweiten Möglichkeit für eine Regionalanästhesie im Bereich des Rückens wird ein sehr dünner, ganz weicher Katheter aus Plastik über eine Nadel in den Bereich vorgeschoben, der das Rückenmark umgibt.
Aus dem Rückenmark treten nämlich feine Nerven aus (gewissermaßen aus dem Wurstwasserglas heraus) und ziehen von dort in die Bereiche, die sie versorgen. Spült man jetzt Lokalanästhesie über den Katheter ein, kann man zwar nicht das Rückenmark direkt, aber die Nerven, die aus dem Rückenmark kommen, betäuben. Das nennt man Periduralanästhesie.
Die Mengen sind hier deutlich höher, auch weil sich die Lokalanästhesie in einem größeren Bereich verteilt. Ziel ist es, die Schmerzspitzen zum Beispiel beim Husten nach einer großen Bauchoperation oder durch die Wehen im Geburtsprozess zu nehmen. Idealerweise hat man eine Gebärende, die keine Schmerzen mehr hat, aber mithelfen und mitpressen und auch noch laufen kann.
Wenn der Katheter gut liegt und beidseits wirkt (manchmal wirkt der Katheter nur einseitig) und man eine sehr große Menge Lokalanästhesie (so im Bereich von etwa 15 –22 ml) über diesen Katheter spritzt, ist die Wirkung nach etwa 10–15 Minuten ähnlich wie bei einer Spinalanästhesie.
Wann wir was machen, hängt vor allem davon ab, was gewünscht ist. Soll nur für eine vaginale Geburt eine unterstützende Schmerztherapie gemacht werden, reicht eine Periduralanästhesie (die mit dem Katheter). Soll für eine Sectio der Bauch so betäubt werden, dass man dort operieren kann und ist es nicht ganz so eilig, spritzen wir den liegenden Katheter auf (falls einer liegt). Und falls nicht, machen wir eine Spinalanästhesie – wenn der Kaiserschnitt eilig, aber kein Notfallkaiserschnitt ist.
Bei einem Notfallkaiserschnitt machen wir übrigens immer und ausnahmslos eine Vollnarkose. Wenn euch also jemand von einem Notfallkaiserschnitt erzählt und dass alle so nett waren und der Partner oder die Partnerin neben ihnen saßen, dann war es vielleicht ein eiliger Kaiserschnitt, aber sicher kein Notfallkaiserschnitt.
Ich hoffe, ich konnte damit etwas Klarheit verschaffen und freue mich über Rückfragen, hier in den Kommentaren oder bei Twitter (jetzt X) und Mastodon.
Bildquelle: Yasin Arıbuğa, Unsplash