MED-MYTHEN | Beweg dich, Couch-Potato! Das wird Übergewichtigen häufig vermittelt – als vermeintlich heißer Tipp fürs Abnehmen. Aber funktioniert das überhaupt?
Der Mensch ist, was den Energiemetabolismus angeht, eine Art Maschine. Er verbraucht Energie, um sich zu bewegen, um die inneren Organe am Laufen zu halten, um warm zu bleiben. Und die Energie, die er verbraucht, muss er aufnehmen – nicht über die Steckdose, wie typische Maschinen, sondern über die Nahrung. Vordergründig ist die Sache simpel: Wer mehr Energie verbraucht, als er aufnimmt, nimmt ab. Wer mehr Energie zu sich nimmt, als er verbraucht, nimmt zu. Das sind die Gesetze der Physik und sie gelten auch für zweibeinige Säugetiere mit ausgeprägtem Selbstbewusstsein.
Viele ziehen aus diesem Naturgesetz allerdings eine Schlussfolgerung, die sich in den letzten Jahren als etwas voreilig erwiesen hat. Abnehmen? Man nehme körperliche Aktivität und steigere sie so weit, dass der Energieverbrauch die Energieaufnahme übertrifft. Unter der Voraussetzung, dass es gelingt, die zusätzlich nötige Energie für die körperliche Aktivität nicht sofort wieder durch ein entsprechendes Mehr an Nahrungskalorien zu kompensieren, nimmt die Person ab. „Pfunde wegtrainieren“, ist die Kurzversion dieses simplen Standardmodells des menschlichen Energiestoffwechsels. Es ist einfach, es ist bestechend logisch und es stimmt so nicht.
Es gibt mittlerweile ein breites Spektrum an Forschungsarbeiten zum Thema Energiemetabolismus. Einer von mehreren Wissenschaftlern, die sich dem Thema maßgeblich gewidmet haben, ist Herman Pontzer, Professor für Evolutionäre Anthropologie an der Duke University in Durham, North Carolina. Pontzer kann nicht nur Wissenschaft, er kann auch Text. In seinem 2021 publizierten, bisher aus unerklärlichen Gründen noch nicht ins Deutsche übersetzten Buch „Burn – The Misunderstood Science of Human Metabolism“ fasst er eine ganze Plethora an Studien zusammen, viele davon eigene. Die Quintessenz: Zu glauben, dass sich Pfunde nachhaltig abtrainieren lassen, ist in weiten Teilen ein Mythos.
Eine Methode, die die Forschungsarbeiten der letzten Jahre ermöglicht hat, ist die direkte Messung des täglichen Gesamtenergieumsatzes von Lebewesen aller Art mit Hilfe von doppelt markiertem Wasser. Das ist Wasser, bei dem sowohl der Wasserstoff als auch der Sauerstoff mit radioaktiven Isotopen markiert sind. In aller Kürze erlaubt es diese Methode, anhand des täglichen Sammelurins den Gesamtenergieverbrauch – also nicht, wie andere Methoden, beispielsweise nur den Grundumsatz – präzise zu messen und zwar auch zeitversetzt.
Letzteres war wichtig, weil Pontzer wesentliche frühe Studien in Tansania gemacht hat, von wo er die gesammelten Urinproben dann für bestmögliche Messungen in ein US-amerikanisches Labor schickte. Pontzer arbeitete für seine Forschung nämlich mit den Hadza zusammen, einem sehr kleinen Jäger-Sammler-Volk im ostafrikanischen Graben, an den Ufern des Eyasi, ein paar hundert Kilometer südöstlich des Lake Victoria. Die Hadza zeichnen sich durch extrem viel – mehr oder weniger kontinuierliche – körperliche Bewegung aus. Übergewicht gibt es dort praktisch nicht und die Hypothese war, dass das damit zusammenhängt, dass der tägliche Gesamtenergieverbrauch aufgrund der enormen körperlichen Aktivität viel höher ist als in den Industrienationen.
Allein, das war falsch. Pontzer fertigte ein Referenz-Set aus Energieumsatzmessungen von über hundert Personen aus westlichen Industrienationen sowie Japan und Russland an und überlagerte das mit Messungen von 30 Hadza-Probanden beiderlei Geschlechts. Der tägliche Gesamtenergieumsatz hat immer eine recht große Variabilität zwischen unterschiedlichen Personen, wesentlich abhängig von der Körpergröße. Das zeigte sich auch in dieser Messreihe. Insgesamt aber gab es keinen Unterschied zwischen dem durchschnittlichen täglichen Gesamtenergieumsatz der Hadza und jenem von Menschen in westlichen Industrienationen. Gar keinen.
„Hadza-Menschen waren wesentlich aktiver, aber sie verbrannten nicht mehr Kalorien“, so Pontzer in seinem Buch. Der Grund dafür wurde dann im Verlauf der weiteren Forschung immer deutlicher: Der tägliche Gesamtenergieverbrauch ist keine „passive“ Reaktion auf die Menge an körperlicher Aktivität, sondern er ist eine relativ eng und vom Körper aktiv regulierte Größe. Der Mensch folgt einem evolutionär vorgegebenen Pfad, bei dem der Körper versucht, den täglichen Gesamtenergieverbrauch unabhängig vom Aktivitätsniveau mit allen Mitteln konstant zu halten.
Die Messungen bei den Hadza wurden mittlerweile bei zahlreichen anderen Jäger-Sammler-Völkern reproduziert, aber nicht nur dort. Bei Menschen aus aller Herren Ländern, bei anderen Primaten, bei Säugetieren, bei Lemuren, überall das gleiche Bild. Die Gesamtschau der Daten zeigt, dass moderate Aktivität mit einem dezenten Anstieg des täglichen Gesamtenergieverbrauchs von ein paar wenigen Prozent einhergeht. Das ist es dann aber auch. Stärkere körperliche Aktivität bringt dann auch nicht proportional mehr Energieverbrauch, allenfalls ein bisschen.
Das wurde im Gefolge auch in Interventionsstudien gezeigt, im Rahmen derer körperlich inaktive Menschen unter Messung des Gesamtenergieverbrauchs teilweise exzessiv trainieren mussten. Klaas Westerterp, Professor für Human Energetics an der Universität Maastricht, rekrutierte Menschen, die ihr Leben lang keinen Sport gemacht hatten und trainierte sie innerhalb eines Jahres auf Halbmarathon. Die Frauen unter den Probanden legten rund zwei Kilogramm Muskelmasse zu und basierend auf der täglichen Laufstrecke verbrannten sie im Mittel pro Tag 360–390 kcal zusätzlich durch Joggen. Der tägliche Gesamtenergieverbrauch stieg aber nur um weniger als ein Drittel davon, was umgerechnet, je nach Körpergröße, rund 5 % sind. Bei Männern war es ähnlich.
„Die Ergebnisse bedeuten, dass ein Anstieg der täglichen Aktivität am Ende nur wenig Effekt auf die insgesamt pro Tag verbrannten Kalorien hat“, so Pontzer. Daraus wiederum folgt, dass Abnehmen allein durch Training, also ohne, dass gleichzeitig auf die Kalorienzufuhr geachtet wird, nicht oder allenfalls anfänglich ein bisschen funktioniert. Aber macht Kleinvieh nicht auch Mist? 100 Kilokalorien mehr am Tag müssten irgendwann das Körpergewicht senken. Tun sie auch, aber der Körper versucht, das durch eine Mehraufnahme von Energie auszugleichen. Wer nicht zusätzlich aktiv darauf achtet, zumindest nicht mehr Energie als vorher aufzunehmen, wird auf Dauer keinen Erfolg haben.
Gezeigt wurde der fehlende Gewichtseffekt von Training unter anderem in den Midwest Exercise Trials, in denen die Probanden unter strenger Aufsicht pro Woche bis zu 3.000 Kilokalorien zusätzlich durch Training verbrauchten. Letzteres ist richtig viel, es entspricht etwa 50 Kilometern Joggen pro Woche. Der tägliche Gesamtenergieverbrauch stieg um rund 200 kcal an, mehr nicht. Das Körpergewicht veränderte sich in den ersten Monaten etwas nach unten, danach aber kaum noch. Und längerfristig, über zwei Jahre, war der Effekt minimal: „Wer ein neues Trainingsprogramm startet und quasireligiös daran festhält, der wird nach zwei Jahren nahezu dasselbe wiegen wie vorher“, so Pontzer.
Die spannende Frage ist natürlich, wie das überhaupt sein kann. Gelten die Gesetze der Physik für Lebewesen doch nicht? Sie gelten, aber Lebewesen sind komplexer als ein Verbrennungsmotor. Sie können kompensieren und sie tun das dadurch, dass bei zunehmendem Energieverbrauch der Muskulatur der Energieverbrauch an anderer Stelle nach unten reguliert wird. Dabei wird priorisiert, in erster Linie werden nicht unbedingt notwendige Verbraucher energetisch herunterreguliert.
Welche das genau sind, ist bei unterschiedlichen Lebewesen unterschiedlich. Gut untersucht, so Pontzer, sei es bei Mäusen, wo unter anderem Herz, Lungen und Leber kleiner werden, nicht dagegen das Gehirn. Die beste negative Korrelation zwischen körperlicher Aktivität und Organgröße gab es in diesen Versuchsreihen für Milz und Hoden. Mit anderen Worten: Bei exzessiver körperlicher Aktivität wird Energie gespart bei der Fortpflanzung und bei Immun- und Entzündungsreaktionen. Das passt zu der seit Langem bekannten Beobachtung, dass regelmäßige körperliche Aktivität bei unterschiedlichsten Erkrankungen chronische Entzündungsprozesse günstig beeinflusst.
Und das, so Pontzer gegen Ende seine Buchs, sei dann auch der wahrscheinliche Grund dafür, warum körperliche Aktivität trotz weitgehend fehlendem Gewichtseffekt nachgewiesenermaßen außerordentlich gesund ist. Sie ist nicht gesund, obwohl sie kaum Effekt aufs Körpergewicht hat, sondern geradezu weil sie keinen Effekt darauf hat: Die Umverteilung des Energieverbrauchs, weg von den inneren Organen und von immunologischen Prozessen, hin in Richtung Muskeln, wirke sich wahrscheinlich günstig auf diverse inflammatorisch mitbestimmte Erkrankungen aus. Pontzer weist allerdings darauf hin, dass in diesem Bereich noch einiges an Forschungsbedarf besteht. Zu diesen auch inflammatorischen Erkrankungen zählt am prominentesten die Atherosklerose, aber auch ein Teil der Tumorerkrankungen.
QuellePontzer, Herman. Burn – The Misunderstood Science of Metabolism. Avery, 2021, 364 Seiten.
Bildquelle: Leire Cavia, Unsplash