Die Patientin ist abwesend, pflegt sich nicht mehr und schläft bei der Arbeit ein. Der Hausarzt verschreibt ein Antidepressivum – das bringt aber keine Besserung. Erst ein CT bringt Licht ins Dunkel.
Psychische Erkrankungen stellen gerade im primären Versorgungssektor der Hausärzte und Allgemeinmediziner eine häufige Erkrankungsentität dar. Aufgrund des relativen Fachärztemangels wird tatsächlich der größte Teil psychisch erkrankter Personen nicht von einem psychiatrischen Facharzt, sondern von Hausärzten und Allgemeinmedizinern behandelt. Die Behandlung psychiatrischer Patienten bedarf neben differentialdiagnostischen und therapeutischen Aspekten oftmals eines größeren zeitlichen Umfangs, als dieser es in einer allgemeinmedizinisch orientierten Praxis zulässt. Zudem sind die Kenntnisse psychiatrischer Erkrankungsbilder unter den Kollegen relativ heterogen verteilt.
Dem gegenüber steht der Umstand, dass jegliche psychiatrische Symptomatik bis zum Beweis des Gegenteils als ursächlich organisch anzunehmen ist. Psychiatrische Symptome wie Störungen der Kognition, oder Konzentration, des Antriebs und der Vitalität sind nicht spezifisch für eine einzelne Erkrankung, sondern können Ausdruck verschiedener organischer Ursachen sein. Eine organische Ausschlussdiagnostik sollte also bei jeder schwerwiegenden psychiatrischen Symptomatik so zeitnah wie möglich erfolgen – vor allem dann, wenn die eingeleiteten Therapiemaßnahmen wirkungslos bleiben und die Symptomschwere zunimmt.
Der folgende klinische Fall soll die Wichtigkeit einer gründlichen Untersuchung sowie diagnostischer Zuordnung illustrieren.
Eine Patientin Ende 60 wird von ihrer Familie mit hausärztlicher Einweisung in der psychiatrischen Klinik vorgestellt. Die Angehörigen berichten über eine zunehmende Wesensveränderung der Patientin, welche bereits seit einem knappen Jahr eingesetzt habe. Die Patientin sei noch über das Renteneintrittsalter in der Buchhaltung beschäftigt gewesen und habe ihre berufliche Betätigung immer sehr gewissenhaft ausgeführt. Schrittweise haben sich vermehrt Fehler in ihrer Arbeit eingeschlichen, welche nun erhebliche Ausmaße angenommen haben.
Die Patientin wirke außerdem oftmals schläfrig, schlafe teilweise auch während der Arbeit ein. Neben den tätigkeitsbezogenen Auffälligkeiten wurde berichtet, dass die Patientin sich nicht mehr um ihre körperliche Pflege kümmere. Früher habe sie viel Wert auf ihre äußere Erscheinung gelegt. Laut Angehörigen sei sie vermehrt teilnahms- und interesselos. Zudem sei eine Gedächtnisstörung aufgefallen, die die Patientin habe. Des Weiteren habe sie etwas mehr als 10 kg Körpergewicht verloren.
Einige Wochen zuvor war durch den behandelnden Hausarzt eine antidepressive Medikation mit Venlafaxin begonnen worden. Die verordnete antidepressive Medikation habe an dem Zustandsbild der Patientin jedoch keine Veränderung bewirken können, die Dosis betrug lediglich 75 mg/die. Weitere Medikamente wurden von der Patientin nicht eingenommen.
Der Untersuchungsbefund zeigte eine im Allgemein- und Pflegezustand reduzierte, erheblich verlangsamte, sprachverarmte und adyname Patientin, die sich lediglich unter engmaschiger Anleitung in den Stand mobilisieren konnte. Die Patientin imponierte affektverarmt mit deutlicher Einschränkung der Schwingungsfähigkeit. Psychomotorik und Antrieb waren herabgesetzt, es bestand keine Suizidalität. Die Vitalparameter sowie labormedizinischen Untersuchungen erbrachten keine richtungsweisenden Ergebnisse.
Die angefertigte Computertomografie des Schädels ergab den Befund eines 4,5 x 3,7 x 4,9 cm großen raumfordernden Meningeoms mit Kompression der Ventrikelvorderhörner sowie einer Mittellinienverlagerung:
Die als adynam-regressiv imponierende depressive Klinik wurde in diesem Fall also durch einen gutartigen Hirntumor verursacht. Die Patientin wurde entsprechend in die nächstgelegene neurochirurgische Abteilung zur operativen Versorgung verlegt. Die Operation wurde gut toleriert, die Patientin konnte bei rückläufiger Symptomatik nach angeschlossener Rehabilitationsbehandlung in die häusliche Umgebung zurückkehren und verblieb dort ohne weiteren psychiatrischen Behandlungsbedarf.
Der Erkrankungsverlauf von etwas mehr als einem Jahr lässt annehmen, dass bereits die ersten Auffälligkeiten in der Konzentrationsfähigkeit und des Antriebs der Patientin auf die hirnorganische Ursache zurückzuführen war. Wann die Patientin erstmalig den Hausarzt aufsuchte, lässt sich retrospektiv nicht mehr abschätzen. Anzunehmen ist jedoch, dass zwischen dem Beginn der Symptome und der ersten Konsultation mehrere Monate vergangen waren.
Differentialdiagnostisch wäre anhand der geschilderten Auffälligkeiten auch an eine Alzheimerdemenz zu denken gewesen. Die hierzu notwendige diagnostische Abklärung mittels cCT oder besser cMRT hätte den Tumor jedoch ebenfalls offenbart. Die Erkenntnis aus dem geschilderten Fall lautet daher: Je früher ein organischer Prozess als Verursacher psychiatrischer Symptome vom Tisch ist, desto eher ist mit einem Wirkeintritt der durchgeführten therapeutischen Maßnahmen zu rechnen.
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