Unser Mikrobiom wiegt 1–2 kg, überträgt sich bei Geburt von der Mutter auf das Kind und ein „Pathobiom“ macht krank – oder doch nicht? Wir räumen auf mit den gängigsten Mythen zum menschlichen Mikrobiom.
Das menschliche Mikrobiom fasziniert Forscher schon lange. In den letzten Jahren wird vermehrt über neue Erkenntnisse und Einflüsse der auf und in uns lebenden Mikroorganismen berichtet. „Bedauerlicherweise hat die vermehrte Forschung auch einen gewissen medialen Hype und Fehlinformationen zur Folge“, bemerken die Mikrobiologen Alan W. Walker und Lesley Hoyles. Die beiden Mikrobiomforscher haben deshalb 12 verbreitete Mythen genauer unter die Lupe genommen. Ihr Kommentar ist in Nature Microbiology erschienen. Wir haben euch die bekanntesten Mythen zusammengefasst.
Immer wieder liest man die Behauptung, dass es sich um ein neues Forschungsfeld handelt. Dabei tauchte schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Idee von hilfreichen Mikroorganismen auf. Entdeckt wurden Darmbakterien wie E. coli schon im 19. Jahrhundert. Auch über die gesundheitlichen Auswirkungen wichtiger mikrobiom-assoziierter Stoffwechselprodukte wie kurzkettiger Fettsäuren wurde erstmals vor mehr als 40 Jahren berichtet. Selbst den Begriff Mikrobiom hat nicht erst Nobelpreisträger Joshua Lederberg im Jahr 2001 geprägt, wie es oft heißt.
Obwohl diese Behauptung in der Literatur häufig erwähnt wird, konnten Walker und Hoyles nicht ausmachen, woher sie eigentlich kommt. Vermutlich sei dieses Gewicht aber viel zu hoch angesetzt und liege eher bei bis zu 500 g. Die beiden Mikrobiologen argumentieren so: Der größte Teil der menschlichen Mikrobiota befindet sich im Dickdarm. Diese Mikroorganismen machen in der Regel weniger als die Hälfte des Gewichts der fäkalen Feststoffe aus und der durchschnittliche menschliche Stuhl wiegt weniger als 200 g.
Dieser Mythos sei am weitesten verbreitet, heißt es in dem Kommentar. Auch die Autoren geben zu, ihn selbst schon unkritisch wiedergegeben zu haben. Diese Zahl gehe aber auf eine ungenaue Berechnung aus den 1970er Jahren zurück. Detailliertere Untersuchungen hätten gezeigt, dass das Verhältnis wohl eher bei 1:1 liegt – was immer noch erstaunlich sei.
Varianten dieser Aussage finden immer wieder ihren Weg in populärwissenschaftliche Artikel – sie ist aber nur zum Teil richtig. Es stimmt zwar, dass einige Mikroorganismen bei der Geburt direkt von der Mutter auf das Kind übertragen werden, aber nur wenige Spezies sind tatsächlich „vererbbar“. Der größte Teil der Diversifizierung findet nach der Geburt statt und wird u. a. durch die Ernährung, Umgebung, Genetik und z. B. antibiotische Therapien beeinflusst. Jeder Erwachsene beherbergt eine einzigartige mikrobielle Zusammensetzung – das trifft sogar auf eineiige Zwillinge zu.
Das sogenannte „Pathobiom“ soll durch schädliche Wechselwirkungen zwischen den Mikroben und ihrem Wirt zu Krankheiten führen. Mikroorganismen können aber in einem Kontext schädlich, in einem anderen völlig unproblematisch sein, argumentieren Walker und Hoyles. So sei E. coli im Dickdarm harmlos, kann aber in den Harnwegen eine Infektion verursachen.
Und doch gibt es nachweislich Erkrankungen, die mit einem veränderten Mikrobiom korrelieren. Der hierfür verwendete Begriff „Dysbiose“ habe aber nur begrenzte klinische Anwendbarkeit. „Es ist sehr wahrscheinlich, dass dies bei einigen Erkrankungen, wie z. B. entzündlichen Darmerkrankungen, zum Fortschreiten der Krankheit beiträgt. Doch solche Veränderungen sind selten konsistent und die Mikrobiota sind sowohl bei gesunden als auch bei kranken Menschen sehr unterschiedlich“, so die Autoren. Einen Konsens zur Definition von Kipp-Punkten, an denen Veränderungen in der Mikrobiom-Zusammensetzung definitiv einen Krankheitsverlauf beeinflussen, gebe es bisher nicht.
Dieser Mythos stammt wohl aus Nagetier-Studien oder einzelnen nicht-reproduzierbaren Human-Studien. Bisher gilt: Es gibt keine reproduzierbaren mikrobiellen Signaturen, die mit Übergewicht beim Menschen einhergehen.
Diese Behauptung geht laut den Autoren auf Erkenntnisse zurück, dass die taxonomische Zusammensetzung menschlicher Metagenome zwar sehr unterschiedlich sein kann, die Gen-Profile am Ende aber bemerkenswert konsistent bleiben. Und in der Tat: Viele Arten des menschlichen Mikrobioms können wichtige Funktionen, wie die Produktion kurzkettiger Fettsäuren, übernehmen. Es gibt aber auch Schlüsselfunktionen, die nur von einer relativ kleinen Anzahl von Mikrobiota-Arten ausgeführt werden – z. B. der Abbau von Oxalat und resistenter Stärke. Fehlen solche Schlüsselarten, können diese Funktionen nicht unbedingt vollständig durch andere Mikroben ersetzt werden.
Auch bei sequenzbasierten Studien kann es zu Verzerrungen kommen, die bei der Probensammlung und -lagerung oder labortechnischen Schritten wie der DNA-Extraktion zustande kommen. Es konnte gezeigt werden, dass bei sequenzbasierten Ansätzen einige Spezies, die nur mit traditionellen Kultivierungsmethoden gewonnen werden können, überhaupt nicht nachgewiesen wurden. Diese Limitation sollte man stets im Hinterkopf haben, wenn man Studienergebnisse über das Mikrobiom interpretiert. Sequenzbasierte Ergebnisse sollten also mithilfe von zusätzlichen Ansätzen optimiert und überprüft werden. Diese Ansätze sollten dann wiederum je nach Proband, Körperstelle und Fragestellung ausgewählt werden. Außerdem, so stellen Walker und Hoyles klar, sei die Kultivierung der Mikrobiota nach wie vor eine bedeutende Methode in der Mikrobiomforschung. Sie sei zwar arbeitsintensiv und aufwändig, habe aber gegenüber der Sequenzierung klare Vorteile und solle auch weiterhin ausgebaut werden.
„Wenn wir ständig Unwahrheiten über unwichtige Details wiederholen, kann man sich dann auf unsere Genauigkeit verlassen, wenn es um wichtigere Dinge geht?“ – so erklären die beiden Mikrobiomforscher die Motivation für ihren Kommentar in Nature. Mit ihrer Aufklärung wollen sie verhindern, dass endliche Ressourcen für die Erforschung unproduktiver Wege aufgewendet und das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Aussagen ihres Forschungsfeldes untergraben werden.
Wie sieht es bei euch aus – habt auch ihr einige dieser Mythen geglaubt und vielleicht sogar weiterverbreitet?
Bildquelle: Osarugue Igbinoba, Unsplash