Im Gebiet der ehemaligen Sowjetunion sind Phagentherapien lange etabliert – jetzt sollen sie auch hierzulande gegen multiresistente Keime helfen. Ein Forschungsverbund experimentiert mit Bakteriophagen als Medikament gegen Lungenentzündung.
Vor fast 30 Jahren sah der junge Mikrobiologe Holger Ziehr einen Bericht des britischen Senders BBC. Es ging um die Therapie mit Bakteriophagen in Georgien. „Ich habe dann in Erfahrung gebracht, dass es in Tiflis das Eliava-Institut gab, wo für den gesamten Bereich der damaligen Sowjetunion Phagen gegen Infektionskrankheiten hergestellt wurden“, sagt Ziehr. „Phagen waren eine dort über Jahrzehnte etablierte Therapie, die es aber bei uns nicht gab. Den Gedanken an sich fand ich faszinierend, er hat mich bis heute nicht losgelassen.“ Bakteriophagen sind Viren, die Bakterienarten befallen, weil sie sich nur in ihnen vermehren können. Dabei passen nur bestimmte Phagen zu bestimmten Bakterien: Wenn ein Phage ein passendes Wirtsbakterium findet, heftet es sich an dessen Oberfläche und schießt seine Erbinformation hinein, […] das nun veranlasst wird, mittels seiner Enzym-Ausstattung eine neue Phagengeneration herzustellen“, beschreibt das Leibniz-Institut Deutsche Sammlung von Mikroorganismen und Zellkulturen (DSMZ) den Vorgang. „So entstehen aus einem einzigen Bakterium viele neue Phagen in so hoher Zahl, dass die Bakterienzelle platzt und die vielen jungen Phagen entlässt. Sie strömen aus, um sofort weitere passende Bakterienzellen zu befallen“, heißt es weiter.
Um Phagen auch in Deutschland nutzen zu können, haben sich nun Wissenschaftler mit dem Projekt Phage4Cure zusammengetan: „Phage4Cure hat zum Inhalt, exemplarisch am Modell einer bakteriellen Lungeninfektion ein Phagenpräparat zu entwickeln, es pharmakologisch und toxikologisch zu charakterisieren und es in einer klinischen Prüfung am Menschen zu testen“, erklärt Ziehr, Projektleiter am Fraunhofer-Institut für Toxikologie und Experimentelle Medizin (ITEM). „Mit Phage4Cure haben wir ein Projektkonsortium, das in der Lage ist, Phagen pharmazeutisch zu charakterisierten. Zudem können wir die präklinischen und klinischen Modelle durchführen sowie Phagen als Pharmawirkstoff und als zugelassenes Arzneimittel herstellen.“ Holger Ziehr, Projektleiter beim Fraunhofer ITEM Das Projekt ist einmalig in Deutschland und wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) mit rund vier Millionen Euro finanziert. Drei Jahre lang können nun die Wissenschaftler Phagen erforschen, die das Bakterium Pseudomonas aeruginosa zerstören sollen. Es ist unter anderem verantwortlich für Lungenentzündungen und oft multiresistent. „In den letzten Jahren sind in immer mehr zunehmendem Maße die Antibiotikaresistenzen und damit auch Infektionskrankheiten auf dem Vormarsch“, sagt Ziehr: „Unser Ziel ist es, Phagen als neuartige und zusätzliche Therapie für verschiedene Infektionskrankheiten und in unterschiedlichen Verabreichungsformen als Arzneimittel zu entwickeln, insbesondere da, wo Antibiotika gegenwärtig an ihre Grenzen gelangen.“
Vor sechs Jahren reiste Ziehr im Auftrag der Deutschen Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ) nach Georgien. „Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist das Eliava-Institut jetzt nur noch ein Schatten seiner selbst“, sagt er. „Ganz deutlich wurde mir damals die Gefahr bewusst, dass die dort über Jahre akkumulierte Phagen-Expertise langsam verloren geht.“ Die westliche Pharmaindustrie habe bisher vermutlich kein Interesse an Phagenpräparaten gehabt, das Arzneimittelrecht sei auf Phagenpräparate nur schwer abbildbar. Ein Manko der Phagentherapie sei, dass es kontrollierte klinische Prüfungen zu Phagenpräparaten bisher nicht gegeben habe, so Ziehr: „In der wissenschaftlichen Literatur ist einiges zur Anwendung von Phagen am Menschen geschrieben worden, aber dabei hat es sich ausschließlich um Anwendungsbeobachtungen ohne Ausschlusskriterien und Kontrollgruppen gehandelt, also nichts Systematisches.“ Das wollen Ziehr und seine Kollegen nun ändern. „Das ITEM versteht etwas von Bioverfahrenstechnik und befasst sich seit mehr als 20 Jahren damit, biopharmazeutische Wirkstoffe und Prüfarzneimittel in Geltungsbereich des Arzneimittelgesetzes herzustellen. Das ist der erste Baustein für unser Phagenprojekt“, so der Experte. Ebenfalls beteiligt ist das DSMZ: Hier werden die verschiedenen Phagen-Stämme identifiziert und charakterisiert, auf der Suche nach solchen Phagen, die ein möglichst breites Wirtsspektrum haben. Für die präklinische Prüfung ist die Klinik für Infektiologie und Pneumologie der Berliner Charité zuständig, die Durchführung der Studie und die Kommunikation mit den Arzneimitteloberbehörden wird die Charité Research Organisation (CRO) übernehmen.
Leicht wird es nicht: „In dem Versuch, Phagen in ein Medikament zu verwandeln, stecken mehrere Herausforderungen“, sagt Ziehr. „Die erste ist verfahrenstechnisch, weil ein Phage als biologisches Agens im Nanometerbereich eine sehr große Struktur darstellt. Er ist zudem anisometrisch, Phagen sehen aus wie die ersten Mondlandefähren. Größe und Anisometrie machen es schwierig, einen Phagen als Agens bioverfahrenstechnisch zu handhaben, ohne ihn durch herstellungsbedingt nicht vermeidbaren mechanischen Stress zu schädigen.“ Die zweite Herausforderung sei, dass man später kaum ein Monowirkstoffpräparat werde einsetzen können, so Ziehr: „Die Infektion eines Patienten ist in den seltensten Fällen eine Monobakterienbesiedlung, er wird immer von verschiedenen Spezies oder Subtypen besiedelt sein. Da es keine Breitbandphagen geben wird, wird man mit Phagen-Cocktails arbeiten müssen.“ Der Plan sei, erst eine Bakterien-Typisierung vom Patienten zu machen, vergleichbar einem Antibiogramm. So könne man ermitteln, um welche Bakterienspezies es ginge und welche Phagen es dagegen gebe, erklärt der Experte. „Für die Therapie gibt es dann ein Repertoire von verschiedenen Monophagen gegen mehrere Spezies, aus denen der Apotheker dann einen infektionsspezifischen Cocktail für den einzelnen Patienten zusammenstellen kann.“ Aus seiner Sicht gebe es auch eine dritte Herausforderung: „Die Frage ist, wie wir die Phagen einsetzen. Ich glaube nicht, dass die Phagentherapie ein Ersatz für die Antibiotikatherapie werden kann. Stattdessen sollte man die Phagen als Zusatztherapie sehen, die da eingesetzt wird, wo Antibiotika ihre Grenzen erreichen, als sogenannte On-Top-Therapie“, sagt Ziehr. Im Projektkonsortium gehe es jetzt darum, an dem System Phagen den Weg der Entwicklung bis hin zur klinischen Prüfung zu gehen.