Propionsäure ist der neuste Hype. Sie soll als Nahrungsergänzungsmittel beim Abnehmen helfen und allerlei Entzündungen bekämpfen. Ein Faktencheck.
Bei Fermentationsprozessen im menschlichen Darm entsteht aus Bestandteilen der Nahrung unter anderem Propionsäure. Dafür sind insbesondere die Bakterienspezies Bacteroidetes und Firmicutes verantwortlich, indem sie unverdauliche Ballaststoffe abbauen – und sich Propionsäure als Nebenprodukt bildet. Diese kurzkettige Fettsäure soll sich positiv auf verschiedene Stoffwechselprozesse auswirken. Kein Wunder also, dass der Markt an Nahrungsergänzungsmitteln, die Propionsäure oder Propionat enthalten, boomt. Grund genug, einen Blick in die Literatur zu werfen.
Supplemente mit Propionsäure werden online angepriesen. Screenshot: DocCheck.
Eine knapp zehn Jahre alte, aber oft zitierte Publikation geht der Frage nach, welche Effekte Propionsäure auf den Appetit haben könnte. In Experimenten mit Rattenzellen, aber auch mit Ratten selbst fanden Wissenschaftler, dass Propionat die Sekretion von Peptid YY und Glucagon-like Peptide-1 (GLP-1) aus dem Darm stimuliert. Peptid YY wird bei Nahrungsaufnahme ausgeschüttet und vermindert den Appetit. GLP-1 führt zur Insulinausschüttung bei Glukosezufuhr und verringert ebenfalls die Lust auf weitere Speisen.
Tatsächlich hat eine 24-wöchige klinische Studie mit 60 übergewichtigen Erwachsenen den Effekt auch in der Humanmedizin bestätigt. Probanden bekamen 10 g Inulinpropionatester pro Tag. Das Studienteam beobachtete einen Rückgang der Nahrungsaufnahme um 8,7 Prozent (73 kcal). Ob dies klinisch relevant ist, vermag eine kleine Kohorte mit kurzer Studiendauer nicht zu klären. Offen bleibt an der Stelle auch die Frage nach möglichen Nebenwirkungen.
Weitere Forschergruppen wollten in Erfahrung bringen, ob Propionsäure antiinflammatorische Eigenschaften hat und als Therapie bei multiple Sklerose (MS) sinnvoll wäre. Ein Hinweis: Bei MS-Patienten ist die Menge an Propionsäure im Stuhl und im Serum verringert, was auf Veränderungen im Mikrobiom hindeutet. Erhielten Studienteilnehmer 1.000 mg Propionsäure pro Tag für 14 Tage, kam es zum Anstieg funktionsfähiger regulatorischer T-Zellen (Treg), während sich die Zahl an Th1- und Th17-Zellen stark verringerte.
Post-hoc-Analysen zeigten nach dreijähriger Anwendung des Supplements eine verringerte jährliche MS-Rückfallrate. Körperliche Einschränkungen wurden gestoppt, und Hirnatrophien verringerten sich. An der Untersuchung nahmen rund 300 MS-Patienten teil.
Die Befunde lassen sich nur durch prospektive, randomisiert-kontrollierte Studien bestätigen – oder eben widerlegen. Immerhin deuten Experimente aus Zellkulturen darauf hin, dass Propionsäure den oxidativen Stress in Nervenzellen verringert, was neuroprotektive Effekte erklären könnte.
Nicht nur bei MS, sondern auch bei Atherosklerose kommen immunologische Effekte zum Tragen – ein weiterer Fall für Propionsäure, dachten sich Wissenschaftler. Um die Wirkung kurzkettiger Fettsäuren auf hypertensive Herzschäden und Atherosklerose zu untersuchen, erhielten transgene Mäuse Propionat oder kein Propionat im Trinkwasser. Bluthochdruck wurde über die Gabe von Angiotensin II ausgelöst.
Das Supplement verringerte zumindest in Mausmodellen die kardiale Hypertrophie, Fibrose, vaskuläre Dysfunktion und Hypertonie. Entzündliche Vorgänge gingen ebenfalls zurück. Ob es, wie die Autoren spekulieren, vorteilhaft sei, Patienten mit hypertensiven kardiovaskulären Erkrankungen mit Propionsäure zu versorgen, lässt sich aus diesen Daten derzeit nicht ableiten. Der Sprung vom Tier zum Menschen ist bekanntlich weit.
Weitere Experimente, erneut mit Fokus auf Entzündungen, haben Forscher mit Synovialgewebe bei rheumatoider Arthritis durchgeführt. Sie fanden heraus, das Propionat die miR-140-5p-Expression und die Apoptose fördert, vermutlich über die Hemmung der Survivin-Expression. MicroRNAs wie miR-140-5p sind kleine, nicht-kodierende RNA-Moleküle, die in Zellen eine wichtige Rolle bei der Regulation der Genexpression spielen. Survivin zählt zu den Apoptose-hemmenden Proteinen.
Im Rattenmodell konnte Propionat auch Entzündungen der Gelenke verringern. Daten aus klinischen Studien fehlen bislang aber noch.
So vielversprechend die Ergebnisse der Studien auch klingen, so könnte die Einnahme von Propionat beziehungsweise Propionsäure auch Gefahren bergen – so wie alle Nahrungsergänzungsmittel, die ohne ärztlichen Rat eingenommen werden. Laien können nicht abschätzen, welche Dosis bei einer gewissen Krankheit sinnvoll wäre. Das wissen im Fall von Propionat nicht einmal Forscher. Hinzu kommt, dass Menschen in falscher Hoffnung vielleicht ihre Standardtherapie absetzen und Nahrungsergänzungsmitteln mehr Glauben schenken – und sich damit ihre Grunderkrankung drastisch verschlechtert.
Bleibt als Fazit: Momentan gibt es etliche Studien zu Propionat als Supplement. Nur reichen Zellkulturen oder Tiermodelle nicht aus, um von Evidenz zu sprechen. Wir müssen also auf randomisiert-kontrollierte klinische Studien warten.
Bildquelle: Rodion Kutsaiev, unsplash