Pharmazeutische Firmen versuchen an vielen Stellen, Ärzte zu beeinflussen, egal ob im Studium, bei Fortbildungen oder bei Fachartikeln. Leitlinien wecken ebenfalls Begehrlichkeiten – schließlich geht es um Verschreibungen. Ein Vorgehen, gegen das sich zunehmend Widerstand regt.
Geschenke an der Hörsaaltür: Industrievertreter strecken ihre Fühler bereits nach angehenden Ärzten aus. Klaus Lieb und Cora Koch befragten 1.151 Studierende nach Erfahrungen mit Pharmafirmen. Von ihnen hatten 24,6 Prozent mindestens eine gesponserte Veranstaltung besucht. Nichtinformative (65,6 Prozent) sowie informative Geschenke (50,8 Prozent), Sonderdrucke (39,3 Prozent) oder Medikamentenmuster (8,6 Prozent) kamen ebenfalls vor. Rund jeder zweite Befragte gab zu Protokoll, die Annahme von Geschenken sei in Ordnung, weil dadurch ein minimaler Einfluss geltend gemacht werde und weil die eigene finanzielle Situation schlecht sei. Lieb und Koch resümieren: „Medizinstudierende sollten bereits während des Studiums über Strategien pharmazeutischer Unternehmen zur Beeinflussung ihres Verordnungsverhaltens informiert werden, um eine kritische Haltung dazu entwickeln zu können.“
Nicht ohne Grund: Im späteren Berufsalltag lauern Einflussnahmen an jeder Ecke. Zuletzt geriet der Beitrag „Pneumokokken-Impfrate bei Erwachsenen: Analyse von mehr als 850.000 Versicherten einer gesetzlichen Krankenkasse“ in das Kreuzfeuer der Kritik. Dr. Niklas Schurig, Vorstandsmitglied bei MEZIS e.V., bemängelt eine „irrationale Fokussierung auf den Prevenar-Impfstoff“ sowie eine „zu positive Gewichtung“ der Vakzine. „Unerklärtes Ziel dieses Artikels ist nach unserer Auffassung deshalb, den Marktzugang des Pfizer-Konjugat-Impfstoffs Prevenar zu beflügeln“, so Schurig und Kollegen. In einem offenen Brief fordern sie vom Deutschen Ärzteblatt, Autoren mit erheblichen Interessenkonflikten künftig auszuschließen. Entsprechende Standards würden in Magazinen wie „The Lancet“ teilweise schon heute umgesetzt.
Kein Wunder, denn so mancher Artikel landet früher oder später über medizinische Fachgesellschaften in einer Leitlinie. Firmen haben größtes Interesse, hier Einflüsse geltend zu machen. Details liefert eine Analyse von 297 Leitlinien deutscher Fachgesellschaften. Insgesamt bekamen 680 Autoren (49 Prozent) Zuwendungen, die auf mögliche Interessenkonflikte hindeuten. Laut Schurig wird unter anderem die Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG) stark von Firmen unterstützt. Als Beispiel führt er die Nationale VersorgungsLeitlinie Typ-2-Diabetes-Therapie an: „Sogar im Therapieschema ist ein Bruch zwischen verschiedenen Fachgesellschaften ersichtlich.“ Falls Metformin nicht mehr ausreicht, wird es spannend. Die Deutsche Diabetes-Gesellschaft (DDG) und die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) raten zu Inhibitoren der Dipeptidylpeptidase-4 (DPP-4) oder des Natrium-Glukosetransporters-2 (SGLT-2) plus Insulin. Im Gegensatz dazu empfehlen die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) und die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) Insuline beziehungsweise Sulfonylharnstoffe. „Ein Blick in den Leitlinienreport zeigt, dass DDG-Mitglieder massive Interessenskonflikte haben“, weiß Schurig. Mediziner arbeiten teilweise als Gutachter oder Beiräte für Bristol-Myers Squibb, GSK, Lilly, MSD, Novo Nordisk oder Roche. Auch im Report zur S3-Leitlinie „Hodgkin-Lymphom“ der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Onkologie (DGHO) tauchen Affiliationen zu mehreren Konzernen auf. Laut Schurig keine Einzelfälle: „Kollege Hans-Christoph Diener hat bei der American Heart Association 32 Interessenkonflikte angegeben, bei der S3-Leitlinie Demenzen ist aber von keinem einzigen relevanten Konflikt die Rede.“
Diese Tatsache lässt sich mit einem Blick in das Kleingedruckte medizinischer Leitlinien kaum erklären. „Mitwirkende mit Interessenkonflikten, die aufgrund der Fachgesellschaften bzw. anderer Organisationen oder durch das Lenkungsgremium als befangen bewertet wurden, sollen nicht an der Bewertung der Evidenzen und der Konsensfindung mitwirken“, schreibt die AWMF. Für Schurig ist es mit Dokumentationspflichten und schwammigen Erklärungen aber nicht getan. „Im nächsten Schritt haben Verantwortliche festzulegen, wie leichte, mittelschwere und schwerwiegende Interessenkonflikte zu definieren sind.“ Bei Therapieentscheidungen für ein bestimmtes Medikament sollte Neutralität gewährleistet werden. Ein Experte sei auszuschließen, falls er etwa „im diabetologischen Bereich Aktien von MSD hat und bei Leitlinien DPP-4-Hemmer bevorzugt“. Schurig: „Wenn wir stringentere Vorgaben in Deutschland umsetzen würden, gäbe es aktuell nicht genug Experten ohne relevante Interessenkonflikte, die noch an hochwertigen Leitlinien mitarbeiten dürften.“ Hier laufe gerade ein Erneuerungsprozess von innen heraus. Kollegen um Professor Dr. Thomas Lempert haben „NeurologyFirst“ gegründet, um die „gut gelebte Grauzone zu verlassen“.