Arbeiten im Rettungsdienst: unzählige Überstunden, Ersatzdienste und Nebenprojekte. Für Anerkennung und Bestätigung hab ich mein Leben fast an die Wand gefahren – bis mir das Schicksal eines Freundes die Augen öffnete.
Am ersten September 1994 zündete ich ein Feuerwerk und ließ Raketen aufsteigen. Ich begann meine Ausbildung zum Rettungsassistenten, um dann fortan zwei Jahre später als medizinischer Profi verletzte oder erkrankte Menschen zu retten. Es dauerte nicht lang und die permanente Konfrontation mit Tod und Zerstörung war Bestandteil meines täglichen Lebens geworden. Das Arbeiten am Abgrund der Gesellschaft erzeugte einen Pegel, für den ich noch immer nur schlecht Worte finde. So müssen vermutlich Adrenalin, Koks oder Speed im Hirn wirken. Als Berufseinsteiger konnte ich jahrelang den Hals nicht voll bekommen. Ich setzte mich gerne ein, übernahm immer freiwillig und sofort unzählige Dienste, wenn mich jemand wegen eines Dienstausfalles anrief. Teilweise leistete ich pro Monat bis zu dreihundert Stunden Dienst auf einem Rettungswagen.
Ziemlich irre – findet ihr nicht auch? Aber es wurde schnell noch besser für mich: Ich mutierte zum Multitasking-Champion und bekam neue, ebenfalls sehr interessante Positionen. Ab sofort standen nicht nur 100 Prozent Rettungsdienst mit 45 Wochenstunden auf dem Plan, ich kümmerte mich auch noch um das Computernetzwerk meiner damaligen Rettungsdienst-Organisation, machte eine Fortbildung zum Datenschutzbeauftragten und engagierte mich später noch in der Ausbildung zukünftiger Rettungsassistenten – insgesamt für ein Gehalt, für das ein Bankangestellter vermutlich noch nicht einmal seinen PC hochfahren würde.
Zwar fühlte ich mich gebraucht und auch bestätigt, aber bald tauchten Zweifel an meinem Lebenswandel und meiner Priorisierung auf. Ich wurde zunehmend unzufriedener, weil ich für andere grundsätzlich immer erreichbar war und Privates weit hintenangestellt habe. Meine Lebensqualität befand sich auf Talfahrt. In meinem Kopf formte sich ein buntes Kuchendiagramm, auf dem mein Tag in dienstlich und privat eingeteilt war. Ihr könnt euch sicher denken, welcher Bereich 95 Prozent dieses Diagrammes belegte. Ich bemühte mich, den Zustand zu beheben, aber die lange Bank ist des Teufels liebstes Möbelstück. Das Lösen von alten Mustern schien für mich unmöglich. Für meinen Kopf und mein Ego war es gut, für den Job zu brennen und irgendwie wichtig zu sein und gebraucht zu werden.
Mein damaliger Arbeitgeber tat sein Übriges, denn er vermittelte mir, dass es ohne mich schließlich nicht ginge, aber wem man die Schuld gibt, dem gibt man auch die Macht. Ich musste mir irgendwann schon selbst die Frage stellen, wann ich mich und mein Privatleben für meinen Job gänzlich aufgab. Im Kreisel dieser Gedanken machte ich immer weiter, wurde immer unzufriedener und konnte mich aus dieser Situation einfach nicht selbst befreien.
Eines Tages traf ich jedoch einen alten Kumpel wieder. Für ihn und seine kleine Firma hatte ich als Co-Instruktor bei Notfalltrainings für niedergelassene Ärzte mitgewirkt. Ich stand neben ihm am Schreibtisch. Er tippte irgendwas in seinen Computer und ich redete und fragte ihn, wie ich meine Erreichbarkeit einschränken kann. Wie ich das machen soll, weil dieses Immer-präsent-sein so unendlich nervt und Lebensqualität kostet und ich nicht wüsste, wie ich das Problem in den Griff bekommen könnte. WhatsApp sei eine dystopische Hölle, sagte ich, und die Lösung sei so schwer. Mit einem tiefen Atemzug ließ er seine Hände vor seine Tastatur auf den Schreibtisch sinken und hielt inne. Er drehte nur seinen Kopf zu mir hoch und hatte die Stirn in Falten gelegt. Nach einigen Sekunden sagte er: „Du muss wohl auch erst mal ein Prostatakarzinom bekommen, damit du den Wert deiner eigenen Zeit erkennst ….“
Einige Wochen zuvor hat man im Rahmen einer Routineuntersuchung bei ihm ein entsprechendes Karzinom entdeckt und jetzt ging es für ihn um alles oder nichts: Sollte nur bestrahlt oder gleich alles entfernt werden? Hatte der Tumor bereits gestreut oder noch nicht? Und wie geht es weiter mit seiner Familie, seinen Kindern und seinem Freundeskreis? Ich schwieg. In diesem Moment wusste ich nicht, was ich sagen sollte, denn die Wucht des Gesagten schlug bei mir ein wie eine Granate. Plötzlich schien mir mein eigenes Problem so trivial, dass es mir peinlich war, davon überhaupt erzählt zu haben und das auch noch mit einer Ernsthaftigkeit, die ihresgleichen suchte. Das Problem war für mich persönlich zwar nicht trivial, aber ich hatte es mir zu 100 Prozent selbst geschaffen. Ich trug selbst schuld an meiner Situation, weil ich die Kontrolle über mein Leben längst abgegeben hatte.
In genau diesem Moment fand bei mir ein Umdenken statt, das sich bis zum heutigen Tag so fortgeführt hat. Ich war in der Lage, mich selbst daraus zu befreien, wechselte irgendwann die Organisation und erkannte, dass die Welt innerhalb dieses Rettungsdienstunternehmens auch ohne mich funktionierte und das sogar hervorragend. Trotz meiner über zwanzigjährigen Mitarbeit und Position als Urgestein verloren sich die meisten Kontakte schon nach erbärmlich kurzer Zeit. Ich hatte mich über die Bedeutung meines Wirkens bei diesem Arbeitgeber genauso getäuscht, wie über die sogenannten Freundschaften, die daraus entstanden waren. Es blieb fast nichts übrig.
Mein Kumpel hat es überlebt. Ihm geht’s gut, er hat mittlerweile sein Rentenalter erreicht und widmet sich seitdem nur noch der Musik. Er und meine Erkenntnis darüber, dass Selbstfürsorge und ein vernünftiges Zeitmanagement von entscheidender Bedeutung für das eigene Leben sind, haben mich gerettet. Das Modifizieren eines einzigen Parameters war definitiv die beste Entscheidung, die ich je für mein Wohlbefinden getroffen habe: in meinem Job nicht dafür zu brennen, damit andere es warm haben.
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