Der Entwurf des Selbstbestimmungsgesetzes ist beschlossen. Künftig sollen Geschlechtseintrag und Vorname ohne Gutachten geändert werden können – das gilt auch für Kinder. Für die einen ein Befreiungsschlag, für andere ein unkalkulierbares Risiko.
Bisher galt für Menschen mit Geschlechtsdysphorie das Transsexuellengesetz (TSG) von 1980, sobald sie ihre Geschlechtsidentität formell ändern wollten. Gefordert waren zwei voneinander unabhängige psychologische oder psychiatrische Gutachten, deren Kosten von den Antragstellern selbst zu tragen waren. Im Alltagstest sollte die neue Geschlechtsidentität gelebt werden, bevor die gesetzlichen Krankenkassen die Kosten für die medizinische Therapie übernahmen. Dieses Verfahren – von Betroffenen oft als langwierig, kostspielig und entwürdigend bezeichnet – gehört nun der Vergangenheit an. Auch das Bundesverfassungsgericht hat in mehreren Entscheidungen wesentliche Teile des geltenden TSG für verfassungswidrig erklärt.
Mit dem Gesetz über die Selbstbestimmung in Bezug auf den Geschlechtseintrag (SBGG) soll es trans- und intergeschlechtlichen sowie nichtbinären Personen erleichtert werden, Geschlechtseintrag und Vornamen zu ändern.
Wie viele Menschen in Deutschland betroffen sind, lässt sich nicht sicher erfassen. Auskunft über ihre geschlechtliche Identität können Menschen nur jeweils selbst geben und es fehlt an verlässlichen Erhebungen. Einen groben Anhaltspunkt liefert die Zahl der gerichtlichen Verfahren nach dem TSG, die von 2013 mit 1.417 Fällen auf 3.232 Fälle im Jahr 2021 kontinuierlich gestiegen ist.
Eine frühzeitige Therapie hat den Vorteil, dass die physiologische Entwicklung angehalten und das medizinische Verfahren dadurch vereinfacht wird. Entsprechend wird die pubertäre Entwicklung zunächst pharmakologisch mit GnRH-Analoga, sogenannten Pubertätsblockern, gestoppt. Dies führt zu einer Veränderung hormoneller, neuronaler, mentaler und psychischer Entwicklungskaskaden, wie sie für die Pubertät typisch sind. Die Ausbildung sekundärer Geschlechtsmerkmale wird geblockt und geschlechtsangleichende Therapien lassen sich später unkomplizierter durchführen. Im Anschluss erfolgt als zweiter Schritt die Gabe des gegengeschlechtlichen Hormons: Östrogen oder Testosteron. In einem dritten Schritt kann der Körper operativ angepasst werden, im Sinne einer Penis- und Hodenamputation, Neovagina und Brustaugmentation bzw. einer Penoidbildung und Mastektomien neben Hysterektomie und Adnexektomie.
GnRH-Analoga verzögern die Knochendichtezunahme in der kritischen Wachstumsphase. Um die Knochengesundheit zu fördern, müssen ausreichende Calcium- und Vitamin-D-Supplementierungen sowie Sport empfohlen werden. GnRH-Analoga und nachfolgende Hormongaben können metabolische Folgeerscheinungen, wie signifikante Gewichtszunahme bei Transfrauen und ein höheres Typ-2-Diabetes-Risiko bei Transmännern, hervorrufen. Bei einer Hormongabe sind die üblichen Kontraindikationen und Risiken, wie thromboembolische Ereignisse oder Karzinogenese, zu beachten.
Für die geschlechtsangleichenden chirurgischen Verfahren gelten die allgemeinen Operations- und Narkoserisiken. Der mögliche Verlust der reproduktiven Fähigkeit und sexuelle Funktionseinschränkungen, wie Anorgasmie, können die psychische Gesundheit negativ beeinflussen.
Vor einem knappen Jahr äußerte sich das Bundesministerium für Familie und Jugend zur Therapie mit Pubertätsblockern dahingehend: „Die Bundesregierung empfiehlt nicht die Einnahme von Pubertätsblockern. Die Entscheidung über die Verschreibung von Pubertätsblockern liegt ausschließlich im Ermessen der behandelnden Fachärztinnen und -ärzte. Sie informieren auch über Risiken und Nebenwirkungen. Die körperliche und seelische Gesundheit der Kinder und Jugendlichen muss dabei im Mittelpunkt der Behandlung stehen.“
Experten, insbesondere aus der Kinder- und Jugendpsychiatrie, sehen ein so früh einsetzendes Selbstbestimmungsrecht unter Wegfall psychologischer Gutachten kritisch. Gerade die Pubertät gilt als einer der sensibelsten und vulnerabelsten Lebensabschnitte, in dem auch die Frage nach der Geschlechtsidentität Grauzonen durchläuft. Eine übereilte Therapie könne mehr Schaden als Nutzen bringen.
Dr. Alexander Korte, leitender Oberarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie an der LMU München und Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Sexualmedizin, Sexualtherapie und Sexualwissenschaft warnt vor einer zu schnellen und teils irreversiblen Therapie: „Ich glaube allen Betroffenen ihre subjektive Wahrnehmung. Es ist aber unsere Verantwortung als Mediziner und Therapeuten, Menschen auch vor falschen Entscheidungen zu bewahren. Das mag für Außenstehende paternalistisch klingen, aber die Fachliteratur liefert genug Belege dafür, dass sich nicht jede Selbstkategorisierung als transsexuell aus medizinisch-psychologischer Sicht als zutreffend erweist“ erklärt Korte in einem Interview.
Auch scheint die Zahl von Betroffenen, die eine Detransition – also die Rückkehr von der Angleichung – fordern, zu steigen. Es gibt Hinweise, dass die Rate der Detransitionen nicht, wie behauptet wird, im niedrigen Promillebereich liegt, sondern eher bei 13 bis 17 Prozent. „Das ist eine hohe Zahl“, meint Korte.
Mögliche Schäden und irreversible Folgen haben mittlerweile zu einer Überprüfung des medizinischen Handelns geführt. Immer mehr Experten betonen daher, dass die Erstlinientherapie eine psychologische und psychiatrische sein müsse. Die Einsichtsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen in eine solch komplexes Therapieregime mit all seinen Folgen ist Gegenstand kontroverser Diskussionen um den Zeitpunkt des Therapiebeginns.
Inzwischen wollen auch Länder, die zunächst die Therapie mit Pubertätsblockern liberal angewendet hatten, diese bei Kindern nicht mehr zulassen oder die Hürden für deren Einsatz deutlich höher legen. Ärztliche Gremien begründen die neuen Restriktionen mit noch ungeklärten Zweifeln an der Sicherheit. Außerdem gäbe es immer mehr Betroffene, die als Kinder therapiert wurden, aber nun juristisch vorgingen mit dem Argument, sie seien zu rasch und zu leichtfertig behandelt worden und würden jetzt unter dem Resultat leiden.
Das neue Selbstbestimmungsrecht löst jetzt also endgültig das in die Jahre gekommenen Transsexuellengesetzt ab. Für viele, insbesondere für Betroffene, geht damit ein kompliziertes und diskriminierendes Verfahren zu Ende. Kritiker sehen aber insbesondere bei Kindern und Jugendlichen eine riskante Gratwanderung zwischen rechtzeitigem und voreiligem Therapieregime, das schwer zu revidieren ist.
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