Die Sequenzierung des Y-Chromosoms erwies sich bisher als schwierig. Aber Forschern ist es jetzt gelungen das Genom zu entschlüsseln. Was macht es aus, das männliche Geschlecht?
Die Sequenzierung des menschlichen Y-Chromosoms ist äußerst schwierig und wurde lange Zeit übersehen, so dass die Beiträge des Y-Chromosoms zu Gesundheit und Krankheit noch weitgehend unbekannt sind. Eine neue Arbeit, die zum ersten Mal die vollständigen Sequenzen mehrerer menschlicher Y-Chromosomen aus Abstammungslinien rund um den Globus vorstellt, ist ein wichtiger Schritt zum Verständnis der Rolle des Y-Chromosoms in der menschlichen Evolution und Biologie.
Auch wenn sich die Genomik des Menschen in erstaunlichem Tempo weiterentwickelt hat, wurde das Y-Chromosom – eines der männlichen Geschlechtschromosomen – lange Zeit übersehen. Es wurde angenommen, dass die menschlichen Geschlechtschromosomen ursprünglich aus einem Paar strukturell ähnlicher Chromosomen hervorgingen, aber das Y-Chromosom im späteren Verlauf einen erheblichen Abbau erfuhr. Im Laufe vieler Millionen Jahre verlor es 97 % seines früheren Genbestands. Diese eigentümliche evolutionäre Entwicklung hat zu Spekulationen geführt, dass die menschlichen Y-Chromosomen schließlich ganz verschwinden könnten, wenn auch erst in Millionen von Jahren. Es wurde bereits beobachten, dass einige biologische Männer die Y-Chromosomen bei der Zellteilung verlieren, wenn sie altern – die gesundheitlichen Folgen sind dabei unklar.
Praktisch gesehen enthält das Y-Chromosom einen großen Anteil an repetitiven und heterochromatischen (stark kondensierten, Gen-armen und nicht in Boten-RNA transkribierten) Sequenzen, was seine vollständige Sequenzierung besonders erschwert. Unter Verwendung von Sequenzierungsmethoden, die lange, kontinuierliche Sequenzen abdecken können, hat das Telomere-to-Telomere (T2T)-Konsortium nun die erste vollständige Sequenz des Y-Chromosoms eines einzelnen Individuums europäischer Abstammung im Fachmagazin Nature veröffentlicht. Gleichzeitig hat ein Team unter der Leitung von Charles Lee, Professor am Jackson Laboratory (JAX) und Inhaber des Robert Alvine Family Endowed Chair, Y-Chromosomen von 43 nicht verwandten Männern zusammengestellt, von denen fast die Hälfte aus afrikanischen Abstammungslinien stammt. Diese Studie wurde ebenfalls in Nature publiziert. Zusammengenommen bilden beide Veröffentlichungen eine wichtige Grundlage für künftige Studien.
Bei der genomischen Sequenzierung mit den üblichen Short-Read-Technologien wird die genomische DNA in kurze (~250 Basen lange) Fragmente zerlegt. Diese Fragmente werden dann wieder zu einem vollständigen Genom zusammengesetzt, das mehr als 3 Milliarden Basenpaare auf 46 Chromosomen des Menschen umfasst. Die Methode ist sehr genau und funktioniert – aber nicht für alle Teile des Genoms. Die meisten „vollständigen“ Gensequenzen des menschlichen Genoms sind nur zu etwa 90 % vollständig, da es schwierig ist, sich stark wiederholende und komplexe Abschnitte genau zusammenzusetzen. Die Genom-Sequenz, die als derzeit als Referenz dient (bekannt als GRCh38), ist besonders in Teilen des Y-Chromosoms unvollständig. Kaum die Hälfte dieses Chromosoms ist in GRCh38 zusammensetzt.
Während das viel größere und genreiche X-Chromosom ausgiebig untersucht wurde, wurde das Y-Chromosom außerhalb von Fruchtbarkeitsstudien bei Männern oft übersehen. Wissenschaftler vom JAX, darunter die Erstautorin Dr. Pille Hallast, haben zusammen mit Wissenschaftlern der Clemson University und der Heinrich-Heine-Universität, nun zum ersten Mal ein vollständiges Bild der wichtigsten Merkmale des Y-Chromosoms und der Unterschiede zwischen Individuen aufgezeigt. Bemerkenswert ist die auffällige Variation in Größe und Struktur der 43 sequenzierten Y-Chromosomen, die 180.000 Jahre menschlicher Evolution abdecken und zwischen 45,2 und 84,9 Millionen Basenpaaren lang sind.
Die Einbeziehung von 43 verschiedenen Individuen, die unterschiedliche Y-Linien repräsentieren, ermöglichte es den Forschern, die Grenzen zwischen den chromosomalen Regionen neu zu definieren und große Variationen mit einer verbesserten Auflösung zu identifizieren. Die Studie zeigte außerdem ein unerwartetes Maß an struktureller Variation der Y-Chromosomen. So weist beispielsweise die Hälfte des Euchromatins der sequenzierten Chromosomen große wiederkehrende Inversionen auf und das in einer viel höheren Frequenz als sonst im Genom. In der Studie wurden außerdem Regionen des Y-Chromosoms identifiziert, die nur eine geringe Variation der einzelnen Nukleotide, aber eine hohe Variabilität der Genkopienzahl für bestimmte Genfamilien aufweisen. Bei Genfamilien, die eine Rolle bei der Fruchtbarkeit und Entwicklung spielen, blieb die Kopienzahl jedoch gleich.
„Vollständig aufgelöste Sequenzen des Y-Chromosoms von mehreren Individuen sind unerlässlich, um zu verstehen, wie sich diese Variation auf die Funktion auswirken kann“, sagt Hallast. „Das Ausmaß der strukturellen Variation zwischen Individuen hat mich sehr überrascht, obwohl die Nukleotidsequenzen innerhalb der Y-Chromosom-Gene vergleichsweise konserviert sind. Die variable Anzahl der Genkopien in bestimmten Genfamilien und die extrem hohen Inversionsraten spielen mit Sicherheit eine wichtige biologische und evolutionäre Rolle.“
Der Beitrag des Y-Chromosoms zur Gesundheit des Mannes ist nur unzureichend bekannt. Einige unerwartete Hinweise auf die Bedeutung des Y-Chromosoms für die menschliche Gesundheit wurden vor kurzem in zwei neuen Forschungsstudien gefunden, die das Y-Chromosom mit aggressiven Merkmalen von Dickdarm- und Blasenkrebs bei Männern in Verbindung bringen. Eine der Studien zeigte, dass Tumoren, die das Y-Chromosom verloren haben, sich der T-Zellen-Immunität effektiver entziehen können. Sie sind mit einer höheren Anzahl dysfunktionaler CD8+ T-Zellen infiltriert und sprechen besser auf Anti-PD1-Behandlungen an als ähnliche Tumoren, die das Y-Chromosom noch besitzen.
„Es gibt immer mehr Forschungsergebnisse, die zeigen, dass die korrekte Funktion des Y-Chromosoms unglaublich wichtig für die allgemeine Gesundheit von Männern ist“, sagt Lee, Hauptautor der Studie. „Unsere Studie ermöglicht die Einbeziehung des vollständigen Y-Chromosoms in alle zukünftigen Studien, wenn männliche Genome sequenziert werden, um Gesundheit und Krankheit zu verstehen.“
Dieser Text basiert auf einer Pressemitteilung des Jackson Laboratory. Hier findet ihr die Originalpublikation.
Bildquelle: National Cancer Institute, Unsplash